von Susan Bonath
Die täglichen Schreckensmeldungen über positiv Getestete reißen nicht ab. Die Bundesländer verschärfen ihre Maßnahmen zur angeblichen Virusabwehr zusehends. Eine Pleitewelle kleiner Betriebe, verbunden mit einem weiteren Anstieg von Armut und Arbeitslosigkeit, steht noch bevor. Derweil sind Arbeitsagenturen und Jobcenter fortgesetzt nur eingeschränkt oder gar nicht für die Bürger zugänglich.
Hilfesuchende landen selbst in akuter Not in Warteschleifen von Callcentern. Und niemand weiß, wann der Pandemie-Notstand ein Ende haben wird. Dennoch: Seit dem 1. Oktober ist es vorbei mit der Kulanz gegenüber Betroffenen. Die Jobcenter sind zu ihrer ursprünglichen Härte gegenüber Neuantragstellern zurückgekehrt. Lediglich die Möglichkeit, Leistungen online zu beantragen, besteht bis Ende Dezember weiter.
So prüfen die Behörden bei Neuanträgen nun wieder akribisch, ob Betroffene über angesparte Rücklagen verfügen. Zudem ermitteln sie, ob die Mietwohnung oder das Eigenheim den strengen Vorgaben gerecht wird. Viele werden sich auf die Suche nach einer "angemessenen" Bleibe machen, einige ihr Haus verkaufen müssen, um Zugang zur Grundsicherung zu erhalten. Andere müssen zuerst ihre Lebensversicherung "aufessen" oder den zu teuren Kleinwagen zu Geld machen.
Sozialschutz light läuft aus
Hintergrund ist das auslaufende Sozialschutzpaket der Bundesregierung. Großspurig hatte diese Ende März verkündet, den Gestrauchelten damit unter die Arme zu greifen. Danach sollten Jobcenter sechs Monate lang Kulanz walten lassen. Antragsteller, deren Einkommen weggebrochen war, sollten weniger akribisch danach durchleuchtet werden, ob sie ihren Lebensunterhalt aus angesparten Mitteln bestreiten könnten. Eine Ausnahme bestand bei "erheblichem Vermögen". Geprüft wurde also dennoch.
Auch die sonst gängigen Umzugsaufforderungen waren befristet ausgesetzt worden. Die Ämter mussten für das zurückliegende halbe Jahr auch Wohnkosten oberhalb der von den Landkreisen oder Städten festgelegten niedrigen Mietobergrenzen übernehmen, um Obdachlosigkeit zu verhindern. Beides galt ausschließlich für Menschen, die Hartz IV aufgrund fehlenden Einkommens neu beantragen mussten.
Hab und Gut streng durchleuchtet
Nun werden Kontostände und der Inhalt des Portemonnaies wieder abgefragt. Jede Altersrücklage ist anzugeben, und Hilfesuchende müssen innerhalb eines halben Jahres eine "angemessene" Wohnung finden. Dabei sind Letztere schon lange Mangelware. Laut einer Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der Fraktion Die Linke im Bundestag Ende vergangenen Jahres mussten 2018 rund 550.000 Hartz-IV-Haushalte durchschnittlich 82 Euro monatlich aus ihrem mageren Regelsatzbudget draufzahlen, weil die Miete über der Obergrenze lag.
Für Menschen, die bereits vor dem 1. April Hartz IV bezogen hatten, blieb das Wohnkostenproblem aber durchweg weiter bestehen. Im Mai mussten Bedürftige beispielsweise insgesamt 42,1 Millionen Euro Mietkosten aus ihrem Regelsatz aufbringen, weil ihre Bleibe teurer war, als die Obergrenze des jeweiligen Landkreises es erlaubte. Zwischen Februar und Mai stieg die Zahl der Haushalte, die auf Grundsicherung angewiesen waren, um 200.000 auf fast drei Millionen an.
Hartz-IV-Kürzungen seit Juli
Mit anderen Sonderregeln ist es schon seit Wochen vorbei. Seit 1. September werden Leistungen nicht mehr automatisch weiter bewilligt. Betroffene müssen wieder fristgerecht einen entsprechenden Antrag stellen, um weiter Hilfe zum Lebensunterhalt und die Beiträge zur Krankenversicherung zu erhalten.
Sanktionieren dürfen die Jobcenter bereits seit dem 1. Juli wieder. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hatte die Jobcenter mit Datum vom 1. April angewiesen, bis Juni die Grundsicherung nicht zu kürzen, wenn Klienten eine Auflage nicht befolgt hatten. Grund für die Kulanz war die Schließung der Jobcenter für den Kundenverkehr. Telefonisch war Kontakt oft nur mit externen Callcentern möglich. Nach Recherchen der Autorin konnten Betroffene vielerorts nicht einmal akute Notlagen persönlich klären. Die angekündigten Notfallschalter gab es häufig schlicht nicht. Kürzungsstrafen mussten laut BA ausgesetzt werden, weil die gesetzlich vorgeschriebenen Anhörungen nicht möglich waren. Daher könne "nicht ausgeschlossen werden, dass ein wichtiger Grund oder eine unzumutbare Härte vorliegt", heißt es in der BA-Weisung.
Sanktionen entgegen der Weisung
Allerdings nahmen es offenbar viele Behörden nicht so genau mit dem befristeten Sanktionsstopp. So hatten die Jobcenter im April trotz Corona insgesamt 26.000 neue Kürzungsstrafen gegen 21.000 Klienten neu ausgesprochen. Zu diesem Zeitpunkt mussten insgesamt rund 50.000 Haushalte rund 66.000 teils vor Beginn des pandemischen Notstands ausgesprochene Dreimonatssanktionen absitzen.
Auch im Mai verhängten die Jobcenter laut neuester BA-Statistik immer noch gut 6.000 Kürzungen gegen 5.200 Betroffene. In diesem Monat mussten insgesamt noch 40.000 Menschen und ihre Angehörigen mit einer abgesenkten Grundsicherung leben. Dass Hartz-IV-Beziehern bei mehreren "Vergehen" auch zwei, drei oder mehr Strafen aufsummiert werden, ist eine bekannte Praxis.
Angeblich alte "Pflichtverstöße" geahndet
Das Vorgehen im April hatte BA-Sprecher Christian Ludwig damit erklärt, dass die Anweisung nicht für "Pflichtverstöße" bis zum 31. März gegolten habe. Die Jobcenter setzten demnach also ihre bereits verhängten Strafen trotz Pandemie um. Wie die Grünen im Bundestag auf Anfrage von der Bundesregierung jüngst mitgeteilt bekamen, waren unter den Betroffenen auch etwa 42.000 Familien mit Kindern.
Für den Monat Mai klingt diese Erklärung schon unglaubwürdiger. Der BA-Sprecher bemühte sie auf Anfrage dennoch. Es könne "unterschiedliche Gründe" dafür geben, teilte er mit. "Zum Beispiel werden Sanktionen in der Regel im Folgemonat wirksam." Auch könnten "Verfahren anlässlich von Pflichtverstößen zum Jahreswechsel erst im Frühjahr abgeschlossen worden sein", so Ludwig. Da sei dann vermutlich eine Anhörung noch möglich gewesen.
Darüber hinaus ist anzunehmen, dass Jobcenter noch viel mehr sanktioniert haben, als der BA-Statistik zu entnehmen ist. Denn diese listet ausschließlich das Vorgehen jener Behörden auf, die bei der Leistungsverwaltung der Bundesagentur unterstehen. Mehr als ein Viertel der gut 400 Jobcenter unterstehen aber einzig den Kommunen. Ludwig erklärte, die Weisung "galt nicht für die Jobcenter, die in kommunaler Verantwortung betrieben werden". Über deren Gebaren ist bei der BA nichts zu erfahren.
Hartz IV, die daran angelehnte Sozialhilfe und die niedrigeren Asylbewerberleistungen gelten als physisches und soziokulturelles Existenzminimum. Seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) im November 2019 dürfen die Behörden diese Leistungen um höchstens 30 Prozent kürzen. Zuvor waren Sanktionen bis zu 100 Prozent für jeweils drei Monate möglich. Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren sowie ausländische Leistungsbezieher sind laut BA-Statistik seit Jahren überproportional von der Praxis betroffen.
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