Zum Start der Corona-Warn-App vor 100 Tagen hatte Kanzleramtschef Helge Braun die Latte sehr hoch gelegt. "Das ist nicht die erste Corona-App weltweit, die vorgestellt wird. Aber ich bin ziemlich überzeugt, es ist die Beste", sagte der promovierte Mediziner damals. "Sie herunterzuladen und zu nutzen, das ist ein kleiner Schritt für jeden von uns, aber ein großer Schritt für die Pandemiebekämpfung."
In keinem anderen westlichen Land wurde eine vergleichbare Anwendung so häufig heruntergeladen wie die Anwendung des Robert Koch-Instituts. Dennoch melden sich immer wieder Kritiker zu Wort, die die Wirksamkeit der App in Frage stellen. Diese Zweifel werden auch durch technische Unzulänglichkeiten genährt.
Ungenaue Werte
Die App erfasst mittels Bluetooth-Signalen, ob und welche Smartphones einander über einen gewissen Zeitraum nahe gekommen sind. Allerdings war Bluetooth als Nahfeld-Funkstandard nicht für diese Aufgabe entwickelt. Daher müssen die Macher der App mit Verbindungsparametern kalkulieren, die oft nicht für die neue Aufgabe hinreichend genau verwertbar sind.
Die Kontakt-Ermittlung via Bluetooth ist aber nicht die einzige Funktion der Corona-Warn-Applikation. Die Anwendung berechnet auch das Gesamtrisiko, das sich aus der Gesamtzeit aller Begegnungen mit einem als bekannt ermittelten Risiko der vergangenen 14 Tage ergibt. Wenn die App daraufhin in einem roten Feld ein "erhöhtes Risiko" anzeigt, erhalten die Betroffenen die Empfehlung, sich nach Hause zu begeben oder weiter zu Hause zu bleiben sowie mit ihrem Hausarzt, dem ärztlichen Bereitschaftsdienst oder dem Gesundheitsamt Kontakt aufzunehmen und dort das weitere Vorgehen abzustimmen.
Im Laufe der ersten 100 Tage hat diese Risikobewertung nicht immer zuverlässig funktioniert. So kam zutage, dass die App auf einem iPhone zeitweise Aussetzer hatte. Dadurch wurden manche Nutzer nicht oder zu spät gewarnt. Nach mehreren Anläufen wurde dieser Fehler in Zusammenarbeit mit Apple behoben.
Nicht genug Nutzer
Doch selbst dann, wenn die App nun einwandfrei arbeitet, sind ihre Möglichkeiten weit davon entfernt, die Bevölkerung flächendeckend zu warnen. Das hat vor allem mit den Nutzerzahlen zu tun. Die App wurde nach Angaben des RKI inzwischen 18,2 Millionen Mal heruntergeladen. Dabei wurde nur eine Installation pro Apple-ID beziehungsweise Google-Konto gezählt, also nicht die Gesamtheit aller Downloads oder Aktualisierungen.
Da manche dieser bezifferbaren Anwender die App aber auch wieder deinstalliert oder auch die Bluetooth-Konnektivität abgeschaltet haben, fällt die Zahl der aktiven Benutzer mit Sicherheit niedriger aus. Experten schätzen, dass etwa 15 Millionen Menschen in Deutschland die Anwendung tatsächlich aktiv nutzen. Dem entspricht auch die Größenordnung der täglichen Zugriffe auf Telekom-Servern, wo sich jede aktive App alle 24 Stunden die Liste aller Tagesschlüssel derjenigen Smartphones herunterlädt, die in Verbindung mit positiven Testergebnissen stehen.
Gert Georg Wagner, Mitglied des Sachverständigenrats für Verbraucherfragen beim Bundesjustizministerium, macht folgende Rechnung auf: Wenn 25 Prozent aller Erwachsenen in Deutschland die App heruntergeladen und tatsächlich aktiviert haben, dann werden diese auch nur über ein Viertel aller ihrer Kontakte informiert, die unter Umständen infektiös sind.
Weil eben nur ein Viertel die App installiert haben und nicht alle. Daher muss man 0,25 mit 0,25 multiplizieren, das ergibt 0,0625. Das bedeutet, es wird ein wenig über sechs Prozent der Fälle überhaupt erfasst.
Um auf einen Wert von 50 Prozent Erfassung aller tatsächlichen Fälle zu kommen, müssten sogar mehr als 70 Prozent der Erwachsenen die Corona-Warn-App wirklich anwenden. Mit den heute deutlich niedrigeren Zahlen werde die App aber nicht irrelevant, "denn selbst sechs Prozent sind deutlich mehr als nichts", so Wagner.
Nach Ansicht von Karl Lauterbach werde die App jedoch "unterschätzt". "Für die erste Welle kam sie zu spät, für die zweite Welle zu früh", so der SPD-Politiker. Die App könne noch einen großen Beitrag leisten, weil sie in der besonders betroffenen Altersgruppe stark genutzt werde.
Corona-Warn-App 2.0
Lauterbach plädiert aber dafür, die App um bestimmte Funktionen zu erweitern. Neben zusätzlichen Informationen für die Nutzer in der App wünscht sich der SPD-Politiker eine Echtzeit-Erkennung von gefährlichen Menschenansammlungen, die sich zu einem Superspreading-Event entwickeln könnten. Auch der Experte Wagner von der Max-Planck-Gesellschaft wünscht sich eine Erweiterung der App um freiwillige Angaben – also etwa würden Geschlecht, Alter und insbesondere die berufliche Tätigkeit den Wissenschaftlern helfen.
Henning Tillmann, Softwareentwickler und Co-Vorsitzender des digitalpolitischen Thinktanks D64, sagte:
Es wird höchste Zeit für eine Corona-Warn-App 2.0, damit die App helfen kann, gut durch den anstehenden Corona-Winter zu kommen.
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(dpa/rt)