Hinter dem eher unscheinbar wirkenden Namen "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP) steckt eine der einflussreichsten deutschen Forschungseinrichtungen für Außen- und Sicherheitspolitik. Sie wurde durch einen Beschluss des Bundestags 1965 gegründet und wird seitdem durch Mittel des Bundeskanzleramtes finanziert. Vertreter der Bundestagsfraktionen und der Bundesregierung sowie Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft sitzen im Stiftungsrat. Das zeigt, welche Bedeutung dieser Denkfabrik und ihrer Arbeit beigemessen wird.
Zu den gegenwärtigen Forderungen einiger transatlantischer Politiker wie beispielsweise Norbert Röttgen (CDU), im Zuge der mutmaßlichen Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexei Nawalny das Infrastrukturprojekt Nord Stream 2 auf den letzten Metern doch noch zu stoppen, nahmen die Experten der SWP nun in einer kurzen Analyse Stellung.
Darin halten sie fest, dass es sich um ein "hoch symbolisches" Projekt handelt, das die "Bereitschaft" zur Zusammenarbeit zwischen Deutschland (und einigen europäischen Partnern) und Russland signalisiert, obwohl es im Jahr 2014 zu der vom Westen nicht anerkannten Reintegration der Halbinsel Krim in die Russische Föderation kam. Die zweite Röhre des Nord-Stream-Projekts habe keine Auswirkungen auf die Energiesicherheit Deutschlands und Europas, da genügend Gas aus den bereits existierenden Pipelines über die Ukraine, Polen, Weißrussland sowie Nord Stream 1 transportiert werde, um den Bedarf zu decken. Ein Stopp von Nord Stream 2 würde demnach das Volumen an Gas "nicht im Geringsten" reduzieren, das von dem russischen Gasgiganten Gazprom bezogen wird.
Trotzdem hatte sich die Bundesregierung entschieden, allen Widrigkeiten und Angriffen insbesondere der Balten, Polen und Ukrainer zum Trotz an dem Projekt festzuhalten. Selbst als der Druck aus den USA mit Sanktionen, Drohungen und Erpressungen immer mehr zunahm und die Beziehungen zwischen Washington und Berlin sich zusehends verschlechterten, beugte sich Kanzlerin Angela Merkel nicht. Wenn man die in vielen Fällen eher unterwürfig anmutende Haltung der bundesdeutschen Politik gegenüber den USA mit der schon fast trotzig wirkenden Position in der Frage von Nord Stream 2 vergleicht, wird offenkundig, dass es sich dabei um ein für die Bundesregierung strategisch wichtiges Projekt handelt.
Erst der Fall um den glücklicherweise wieder genesenen Nawalny verknüpfte die Frage nach Konsequenzen mit dem Baustopp und endgültigen Abbruch des Projekts, dem sich Merkel nicht mehr widersetzen konnte oder wollte. Eine Entscheidung diesbezüglich ist hingegen noch nicht gefallen. Es soll am Ende eine "europäische Antwort" werden, erklärte die Kanzlerin.
Die SWP plädiert in ihrer Analyse aber für die Beibehaltung dieses strategischen Infrastrukturprojekts, indem sie auf vier aus ihrer Sicht zentrale Punkte hinweist, die für die Bundesregierung von Bedeutung sind.
Obwohl die Energiesicherheit ohne die zweite Röhre nach wie vor gewährleistet wäre, was auch in der Bundespressekonferenz am 7. September bestätigt wurde, schreiben die Experten, dass diese "direkte, effiziente (und) moderne Pipeline die Risiken von Transitstörungen und technischen Fehlern reduzieren würde". Ein klarer Hinweis auf die störanfälligen alten Pipelines aus Sowjetzeiten, insbesondere jene durch die Ukraine.
Einwände von Kritikern des Projekts, dass die Pipeline ohnehin nicht gebraucht werde, weil Deutschland doch die Energiewende vollziehen und sich von fossilen Energieträgern verabschieden möchte, ließen die Fachleute nicht gelten. Bis die Voraussetzungen für die richtige Energiewende erfüllt sind, werde noch viel Zeit vergehen, und bis dahin müsse die Energiesicherheit gewährleistet bleiben. Auch der von den USA forcierte Export von Flüssiggas (LNG) wird von den SWP-Experten offensichtlich eher kritisch bewertet, weil sich die Preise dafür schnell verändern können. Langfristige Verträge mit Gazprom bieten eine höhere Sicherheit.
Doch der wichtigste Aspekt, den die Bundesregierung bei einer Entscheidung über den Abbruch von Nord Stream 2 bedenken sollte, sei die "unbestreitbare" geopolitische Komponente eines solchen strategischen Infrastrukturprojekts. Bisher führte die Bundesregierung stets an, dass es sich um ein privatwirtschaftliches Projekt handele und man deshalb keinen politischen Einfluss nehmen könne. Spätestens seit der Verknüpfung des Projekts mit politischen Konsequenzen für Russland gab Merkel diese Rechtfertigung – oder Ausrede – aber auf. Auch andere Staaten benutzen solche wirtschaftlichen Großinvestitionen als politische Mittel, um ihre Interessen durchzusetzen.
Trotz des ganzen politischen Feuerwerks ist das Projekt ein strategischer Gewinn für den deutschen Handel und Industrie. Deutschland und seine EU-Partner würden sich nur selbst schaden, wenn sie den Bau stoppen, nur um eine normative Nachricht an den Kreml zu schicken. Putin würde das wahrscheinlich nur so interpretieren, dass Deutschland einfach dem US-Druck nachgegeben hat, was das politische Signal weiter schwächen würde.
Und wenn man tatsächlich eine "normative Nachricht" senden wolle, stellt sich laut der SWP die Frage, warum gerade jetzt. Hätte es in der Vergangenheit nicht Fälle gegeben, die auf "soliderer Grundlage" stehen als die mutmaßliche Vergiftung Nawalnys in Russland? "Ist diese Situation tatsächlich qualitativ neu?", fragen sich die Autoren der Analyse. Die Antwort darauf laute, dass man es mit einem "beinahe unlösbaren Dilemma des fossilen Energiesystems" zu tun habe. Deutschland kaufe "jeden Tag Öl und Gas von autoritären Regimen", lautet die Erkenntnis. Dennoch sei es wichtig, dass man mit ihnen "zuverlässig wichtige Infrastrukturprojekte realisieren" könne, die die Energiesicherheit Deutschlands und Europas sicherstellen. Das gelte auch für Russland.
Dennoch seien die "Tage der besonderen strategischen Energiepartnerschaft" mit Russland vorbei, schließt das SWP. Aber ein "funktionierender Modus Vivendi für Handel und Austausch mit diesem großen und ressourcenreichen Nachbar bleibt essenziell". Ein Abbruch von Nord Stream 2 wäre deshalb nicht im strategischen Interesse Deutschlands. Ein vorübergehender Baustopp wäre hingegen aus Sicht der Experten ein geeignetes Mittel, um "Zeit für alle Beteiligten" zu schaffen. Eine Wiederaufnahme der Abschlussarbeit sollte dann mit EU-Partnern "klar kommuniziert" und für Russland auch umsetzbar sein.
Bei Röttgen, dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, dürfte diese Analyse auf Ablehnung stoßen. Er fordert seit Jahren den Stopp des Projekts, und seit der mutmaßlichen Vergiftung Nawalnys umso nachdrücklicher. Bei einer Sitzung des Unionsfraktionsvorstands mit der kompletten Fraktion stand er mit dieser Forderung aber allein da, wie der Spiegelberichtete. Niemand wollte ernsthaft den Hardliner-Kurs des CDU-Politikers unterstützen.
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