Der russische Oppositionelle Alexei Nawalny wurde mit Verdacht auf eine Vergiftung am 22. August in das Berliner Universitätsklinikum Charité eingeliefert. Zwei Tage später erklärten die Ärzte, dass die "klinischen Befunde auf eine Intoxikation durch eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer" hinweisen. Am selben Tag forderten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Heiko Maas (SPD) Russland in einer gemeinsamen Erklärung auf, "diese Tat bis ins letzte aufzuklären – und das in voller Transparenz".
Bereits zu diesem Zeitpunkt wurden die ersten Stimmen von Gegnern des Pipelineprojekts laut, das Projekt Nord Stream 2 nun abzubrechen. Damit würde zweifellos dem jahrelangen Druck entsprochen werden, den die US-Regierung mit Sanktionen und auch offene Drohungen von US-Senatoren gegen den Hafenbetreiber in Sassnitz auf Rügen aufgebaut haben, um das Milliardenprojekt zu stoppen. Obwohl die Bundesregierung schon oft vor dem Druck Washingtons in anderen Fragen eingeknickt war, hielt Merkel bisher in diesem konkreten Fall an der Pipeline fest und verurteilte die "extraterritorialen Sanktionen" der USA.
Selbst bei ihrem Besuch in Stralsund am 1. September, als sie für einen Wahlkampfauftritt von Berlin in ihren Wahlkreis in Mecklenburg-Vorpommern fuhr, hielt die Kanzlerin an der Fertigstellung von Nord Stream 2 fest. Ob sie da bereits wusste, was das Speziallabor der Bundeswehr bei Proben von Alexei Nawalny festgestellt hat, ist nicht bekannt. Aber bereits am nächsten Tag wurde zunächst unter größter Geheimhaltung in einem Treffen den Kabinettsmitgliedern, dann dem russischen Botschafter und wenig später gegenüber der Öffentlichkeit mitgeteilt, dass der russische Oppositionelle "zweifelsfrei" mit einem chemischen Kampfstoff aus der Nowitschok-Gruppe vergiftet worden sei.
Seitdem wuchs der Druck von Politikern aus verschiedenen Parteien, das Projekt Nord Stream 2 nun abzubrechen. Heiko Maas war es dann – in einem Interview mit der Bild am Sonntag –, der als bisher ranghöchstes Regierungsmitglied nicht mehr ausschließen wollte, dass es soweit kommen könne:
Ich hoffe jedenfalls nicht, dass die Russen uns zwingen, unsere Haltung zu Nord Stream 2 zu ändern. Und: Wer das fordert, muss sich der Konsequenzen bewusst sein. An Nord Stream 2 sind mehr als 100 Unternehmen aus zwölf europäischen Ländern beteiligt, etwa die Hälfte davon aus Deutschland.
Bei der Bundespressekonferenz am Montag folgte dann auch die Bestätigung von Regierungssprecher Steffen Seibert, dass Merkel eine politische Kehrtwende vollzogen hat. Wo sie noch vor einer Woche auf die Fertigstellung von Nord Stream 2 bestand, stärkt sie nun ihrem Außenminister den Rücken und will ebenfalls nicht mehr ausschließen, dass es zu einem Abbruch des Projekts in letzter Minute kommen könne.
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