Vieles an der aktuellen Räuberpistole erinnert an die mutmaßliche Vergiftung der Skripals kurz vor der dann doch noch erfolgreich in Russland ausgetragenen Fußballweltmeisterschaft. Vater und Tochter Skripal wurden demnach mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet. Ohne konkrete Beweise vorzulegen, stand für die transatlantische Gemeinschaft der Schuldige fest: Moskau, oder eher gesagt Putin persönlich. Bis heute bleibt der Fall dubios, und die Skripals scheinen wie vom Erdboden verschluckt.
Nawalny als "Angstgegner" Putins
Sehr ähnlich verhält es sich nun in der Causa Nawalny. Dieser gilt den deutschen Medien als vermeintlicher "Angstgegner" Putins. Russland, "Oppositioneller", Gift. Kaum hatte die Berliner Charité ihren Befund einer "Intoxikation" Nawalnys bestätigt, konnte es sich für die Spitzen der deutschen transatlantischen Politprominenz nur um einen erneuten perfiden Anschlag Moskaus gehandelt haben – auch wenn dies für Moskau auch aus geopolitischer Perspektive erneut absolut keinen Sinn ergibt. Die Frage "cui bono?" interessiert nicht weiter.
Dabei traten auch die Gegner des kurz vor der Fertigstellung stehenden Erdgasprojekts Nord Stream 2 wieder ins Rampenlicht, bei denen an vorderster Front lupenreine Transatlantiker wie der Grünenpolitiker Cem Özdemir und etwa CDU-"Außenexperte" Norbert Röttgen stehen.
Röttgen: Vollendung von Nordstream 2 eine "maximale Bestätigung" Putins
Nun will man in einem Bundeswehrkrankenhaus herausgefunden haben, dass Moskau erneut – und erneut ohne Erfolg – mit Nowitschok zugeschlagen habe, um sich damit auf internationaler Bühne wieder ein erstklassiges Eigentor zur absoluten Unzeit zu schießen. Neben der Forderung nach einer Verschärfung der anti-russischen Sanktionen werden nun auch jene Stimmen lauter, die den Stopp des Erdgasprojekts fordern. Dass seit Jahren nicht nur Russland im Besitz des militärischen Nervenkampfstoffs ist, spielt keinerlei Rolle.
Wieder ist es ein Norbert Röttgen, der dabei besonders hervorsticht. Eine Fertigstellung von Nord Stream 2 wäre demnach "die maximale Bestätigung" für Putin und seinen bisherigen (außenpolitischen) Kurs.
Wenn es jetzt in dieser Situation der Vergiftung und von Belarus zu einer Vollendung von Nord Stream 2 käme, dann wäre das die maximale Bestätigung für Wladimir Putin, dass er genau die richtige Politik macht, weil der Westen nichts macht", weiß Röttgen zu berichten.
Als "europäische Antwort" müsse Nord Stream 2 daher gestoppt werden. Beim "qualvollen, langsamen, öffentlichen Sterben" Nawalnys, so Röttgen, handele es sich nicht etwa um einen wenig plausiblen PR-Supergau für Moskau, sondern um eine bewusste "Einschüchterung der eigenen Bevölkerung".
Klaus Ernst: Nordstream 2 "unbedingt" fertigstellen
Kritik für seine Äußerungen erhielt Röttgen seitens der Linkspartei. "Trotz des sehr ernsten Vorgangs um die Vergiftung von Alexei Nawalny muss Nord Stream 2 unbedingt fertig gebaut werden", erklärte Klaus Ernst, wirtschaftspolitischer Sprecher der Linksfraktion, der WELT. Röttgens Forderung, Nord Stream 2 zur Disposition zu stellen, sei laut Ernst "absolut kontraproduktiv. Nicht nur für Russland, sondern auch für uns".
Die Gegner von Nord Stream 2 versuchen nun, die Geschehnisse zu nutzen, um das Projekt in der Ostsee zu versenken", ergänzte der Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses im Bundestag.
Grüne fordern Stopp von Pipelineprojekt
Wie zuvor bereits der jetzt auch als "Russland-Experte" firmierende Jürgen Trittin fordert derweil nun auch der außenpolitische Sprecher der Grünen, Omid Nouripour, ein hartes Vorgehen gegen Russland. Dazu zähle etwa das Einfrieren von Kapital oder von Immobilien "kremltreuer Oligarchen".
Doch damit nicht genug, denn auch für die Grünen ist jetzt der Augenblick gekommen, Nord Stream 2 den Hahn abzudrehen.
Der offenkundige Mordversuch durch die mafiösen Strukturen des Kreml kann uns heute nicht mehr nur besorgt machen, sondern er muss echte Konsequenzen haben", forderte Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt nun.
Was läge da näher, als das fast fertiggestellte Pipelineprojekt als Strafmaßnahme zu beenden. Ein Projekt, das den Grünen zudem schon lange ein Dorn im Auge ist. "Nord Stream 2 ist nichts mehr, was wir gemeinsam mit Russland vorantreiben können", könnte daher laut der Grünen-Fraktionsvorsitzenden "eine sehr klare" Antwort der Bundesregierung sein.
Kubicki gegenüber RT Deutsch: "Sofortiger Baustopp nicht angezeigt"
Doch nicht alle prominenten Bundespolitiker geben sich blind der erneuten Nowitschok-Erzählung samt geforderter Konsequenzen hin. Zu diesen zählt etwa der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki.
Ein sofortiger Baustopp wäre im Lichte der aktuellen Erkenntnisse nicht angezeigt. Die Bundeskanzlerin hat gestern die russische Regierung aufgerufen, dieses Verbrechen an dem Oppositionspolitiker Nawalny aufzuklären. Wir müssen diese Ergebnisse abwarten. Aber klar ist auch: Sollte es die Bereitschaft zur Aufklärung seitens des Kreml nicht geben, müssen wir über weitere Sanktionsmaßnahmen nachdenken. Ich sage ausdrücklich, dass Nord Stream 2 in allerletzter Konsequenz nicht sakrosankt ist'", erklärte Kubicki am Donnerstag gegenüber RT Deutsch.
Auf die Frage, ob ein Baustopp überhaupt noch möglich sei, antwortet Kubicki wie folgt:
Da dieses Projekt noch nicht abgeschlossen ist, ist ein Stopp bis dahin immer möglich.
Eine vorschnelle Verurteilung Russlands im Nawalny-Fall kann der FDP-Bundestagsvizepräsident nicht erkennen:
Seitens der Bundeskanzlerin kann ich keine vorschnelle Verurteilung der russischen Regierung erkennen. Auch sie hat ja zunächst Aufklärung gefordert. Das kann man nur fordern, wenn es mehr als einen möglichen Auftraggeber für diesen schrecklichen Anschlag gab. Relevantere Stimmen als die von Angela Merkel habe ich aus der Union zu dieser Frage jedenfalls nicht gehört.
Laut Kubicki habe die Bundesregierung bislang richtig reagiert.
Die Bundesregierung hat bisher richtig agiert. Zunächst muss der russischen Regierung die Möglichkeit gegeben werden, dieses Verbrechen aufzuklären. Ich erwarte aber auch, dass die Fraktionen des Deutschen Bundestages schnellstmöglich über die der Bundesregierung vorliegenden Informationen Kenntnis erhalten", forderte der Volkswirt und Rechtsanwalt.
Kubicki zufolge sei es möglich, dass die Tat verübt wurde, ohne dass der Kreml involviert war. Er machte deutlich, dass er "nicht glauben will, dass (Präsident) Wladimir Putin oder überhaupt die Regierung hinter diesem Anschlag steckt", wurde der FDP-Politiker bei der dpa zitiert.
FDP-Bundestagsfraktion fordert Moratorium
Kubickis Haltung ist zumindest in der Bundestagsfraktion seiner Partei nicht mehrheitsfähig. Denn die fordert die Bundesregierung auf, das Pipeline-Projekt vorerst auf Eis zu legen. "Wir sind nicht für ein prinzipielles Aus oder einen sofortigen Stopp dieses Vorhabens", sagte Fraktionschef Christian Lindner am Donnerstag am Rande einer Klausurtagung der Abgeordneten.
Aber es muss ein Moratorium geben, bis die Vorgänge um Herrn Nawalny aufgeklärt sind und es auch eine Kooperationsbereitschaft des Kremls gibt, sichtbar mitzuwirken an der Aufklärung dieses Verbrechens.
Die FDP-Fraktion beschloss nach Darstellung ihres Außenpolitikers Alexander Graf Lambsdorff auch, dass der diplomatische Druck auf Russland steigen müsse, um sich zu erklären und an der Aufklärung mitzuwirken. Es sei richtig, dass die Bundesregierung dies in der EU und der NATO zum Thema mache. Das allein reiche aber nicht. Auch der Europarat, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und die Vereinten Nationen müssten den Fall behandeln.
Es ist einfach wichtig, dass die Russische Föderation erkennt, wie abscheulich dieses Verbrechen ist, und dass es auf allen Ebenen ein Thema ist, über das gesprochen werden muss.
Lambsdorff betonte zudem: "Es kann kein einfaches 'Weiter so' bei Nord Stream 2 geben. Wir brauchen eine Unterbrechung des Baus, bis der Fall Nawalny geklärt ist."
Söder zeigt sich zurückhaltend
Derweil mag sich CSU-Chef Markus Söder keiner Kausalität zwischen der vermeintlichen Nowitschok-Vergiftung Nawalnys und Nord Stream 2 hingeben und zeigte sich zurückhaltend.
Das eine hat mit dem anderen aus unserer Sicht zunächst mal nichts zu tun", erklärte Söder am Donnerstag vor Beginn einer Klausur der CSU-Landesgruppe im Bundestag in Berlin.
Der Bau von Nord Stream 2 sei keine staatliche, sondern eine privatwirtschaftliche Entscheidung. Zugleich räumte der bayerische Ministerpräsident ein, es werde schwieriger, das Projekt "in einem positiven Licht" zu begleiten.
Aber jetzt muss man erst den ersten Schritt gehen und diese diplomatischen, politischen Fragen klären", so Söder weiter.
Schwesig: Nord Stream 2 nicht wegen Nawalny in Frage stellen
Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig plädiert dafür, an der fast fertig gestellten Erdgaspipeline festzuhalten. "Ich teile im Fall Nawalny die Position der Bundesregierung. Die Verantwortlichen für den Giftanschlag müssen ermittelt und bestraft werden. Da sind Politik und Justiz in Russland in der Verantwortung", erklärte die SPD-Politikerin am Donnerstag.
Wer jetzt aber den Verzicht auf Nord Stream 2 fordere, übersehe, dass die Fertigstellung der Pipeline auch im deutschen Interesse liege. "Wir brauchen die Ostseepipeline für die künftige Energieversorgung in Deutschland", so Schwesig. Es sei besser, im Dialog zu bleiben, als Brücken abzubrechen.
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