Am Samstag wurde Nawalny auf Wunsch von Angehörigen aus dem russischen Krankenhaus in Omsk in die Berliner Charité überführt. Die russischen Ärzte konnten nach eigener Aussage keine Spuren eines Giftes entdecken.
Doch laut einer am Montag herausgegebenen Stellungnahme der Charité wurde der 44-Jährige vergiftet. Darauf wiesen klinische Befunde hin. Nawalny befindet sich demnach weiterhin auf der Intensivstation und liegt nach wie vor im künstlichen Koma.
Sein Gesundheitszustand ist ernst, derzeit besteht jedoch keine akute Lebensgefahr", heißt es in der Stellungnahme.
Nawalny sei nach seiner Ankunft "eingehend untersucht" worden. Die klinischen Befunde wiesen auf "eine Intoxikation durch eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterasehemmer hin". Die konkrete Substanz sei aber bislang nicht bekannt. Weiter heißt es in der Stellungnahme:
Die Wirkung des Giftstoffes, d.h. die Cholinesterase-Hemmung im Organismus, ist mehrfach und in unabhängigen Laboren nachgewiesen. Entsprechend der Diagnose wird der Patient mit dem Gegenmittel Atropin behandelt. Der Ausgang der Erkrankung bleibt unsicher, und Spätfolgen, insbesondere im Bereich des Nervensystems, können zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden.
Die behandelnden Ärzte befänden sich in engem Austausch mit Nawalnys Ehefrau. "Im Einvernehmen mit seiner Ehefrau geht die Charité davon aus, dass die öffentliche Mitteilung zum Gesundheitszustand in seinem Sinne ist", heißt es abschließend.
Das Gesundheitsministerium der Region Omsk gab später am Montagabend bekannt, dass die Ärzte eine Untersuchung auf Spuren einer breiten Reihe von synthetischen Stoffen, darunter auf Cholinesterasehemmer, durchgeführt hatten, die einen negativen Befund ergaben. Außerdem habe Nawalny bei der Hospitalisierung keine klinischen Erscheinungen gezeigt, die für die Intoxikation durch eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterasehemmer typisch sind, hieß es weiter.
Der Chef der Abteilung für Anästhesiologie und Reanimation am Nationalen Medizinisch-Chirurgischen Zentrum N. I. Pirogow, Boris Teplych, sagte der Agentur Interfax, dass Nawalny einer Untersuchung auf Cholinesterasehemmer unterzogen worden sei und diese Version "keine Bestätigung gefunden habe".
Der Leiter des Lehrstuhls für Biochemie in der Sankt Petersburger Staatlichen Medizinischen Akademie, Wladimir Dadali, betonte in einem Gespräch mit RT, dass Cholinesterasehemmer durch verschiedene Wege in den Körper geraten können, auch mit Arzneien. Ihm zufolge beeinflussen die Cholinesterasehemmer die Reizweiterleitung. In kleineren Dosen werden sie als Arzneien verwendet, aber in größeren werden sie zu tödlichen Giften.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesaußenminister Heiko Maas riefen die russischen Behörden in einer gemeinsamen Erklärung zum Fall Nawalny auf, "diese Tat bis ins Letzte aufzuklären". Die Verantwortlichen müssten ermittelt und zur Rechenschaft gezogen werden, hieß es.
Zuvor hatte Regierungssprecher Steffen Seibert angesichts des "schwerwiegenden Verdachts eines Giftanschlags" die Forderung der Bundesregierung nach Aufklärung "in voller Transparenz" bekräftigt. Für eine mögliche Vergiftung gebe es "leider in der jüngeren russischen Geschichte den einen oder anderen Beispielfall. Deswegen nimmt die Welt diesen Verdacht sehr ernst", so Seibert, laut dem aber abgewartet werden müsse, was die behandelnden Ärzte feststellen.
Nawalny zweifelte am Vortag an einem möglichen Mordmotiv des Kreml
Diese sprechen nun wie auch Unterstützer des Oppositionspolitikers von einer Vergiftung. Für die Nawalny-Vertraute Ljubow Sobol steht auch der Täter bereits fest:
Das war ein Mordanschlag auf Nawalny, der einzig einem nützt – dem Kreml", sagte sie dem Spiegel.
Doch ausgerechnet der angeblich vom Kreml Vergiftete kann keinen Nutzen für die russische Regierung erkennen. Einen Tag vor seinem Zusammenbruch hatte sich Nawalny mit jüngeren Aktivisten zu einem Gespräch im sibirischen Tomsk getroffen. Dabei sei auch zur Sprache gekommen, ob er um sein Leben fürchte. Wie einer der Aktivisten gegenüber Reuters berichtete, habe Nawalny dazu gesagt, dass sein Tod dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht nutze.
Er antwortete, dass sein Tod für Putin nicht von Vorteil wäre. Und dass dieser aus ihm [Nawalny] einen Helden machen würde", zitiert die Agentur den Aktivisten Ilja Chumakow.
Charité rückt erneut in den Blick der Weltöffentlichkeit
Organisiert wurde der am Samstag erfolgte Transport in die Charité von der Privatorganisation "Cinema for Peace". Wie deren Gründer Jaka Bizilj erklärte, sei dies auf Bitten von Nawalnys Angehörigen geschehen. Finanziert wurde die Überführung laut Nawalnys engem Vertrauten Leonid Wolkow von Boris Simin. Der in den USA lebende russische Unternehmer gilt als Mäzen der liberalen Opposition in seinem Heimatland.
Die Initiative "Cinema for Peace" hatte bereits vor zwei Jahren den Transport des "Pussy Riot"-Aktivisten Pjotr Wersilow aus Russland nach Deutschland vermittelt. Wersilow wurde damals mit schweren Vergiftungserscheinungen in die Charité gebracht. Deren Ärzte hielten eine Vergiftung des Aktivisten aufgrund der "Dynamik der Symptome" für wahrscheinlich, konnten seinerzeit aber keine konkreten Angaben zum Gift und dessen Verabreichung machen. Bereits die Mediziner in Russland waren von einer Vergiftung ausgegangen.
Wie der damalige Charité-Chef Karl Max Einhäupl betonte, habe man gut mit den russischen Kollegen kooperiert. Dank der schon in Moskau erfolgten schnellen Hilfe sei Wersilows Vergiftung nicht lebensbedrohlich gewesen.
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