Nationaler Bildungsbericht 2020: Arme Kinder bleiben in Deutschland immer mehr auf der Strecke

In Deutschland sinkt das allgemeine Bildungsniveau, mehr Jugendliche fallen durchs Raster, und die soziale Herkunft bestimmt wie eh und je den Werdegang von Kindern. Weltweit hat eine Viertelmilliarde Kinder gar keinen Zugang zu einer Schule.

von Susan Bonath

Die soziale Herkunft von Kindern bestimmt in Deutschland weiterhin ihre Bildungswege und Berufschancen. Und offenbar wird die obere Spitze mit der Entwicklung digitaler Technologie dünner. Ein bisher beobachteter Anstieg des allgemeinen Bildungsniveaus scheint sich seit einigen Jahren ins Gegenteil zu verkehren: Immer weniger Schüler wechseln aufs Gymnasium oder an eine Hochschule, mehr Jugendliche fallen durchs Raster. Und: Die Schulschließungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie verschärfen diese Entwicklung. Zu diesem Ergebnis kommt der Nationale Bildungsbericht 2020, den Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) am Dienstag vorgestellt hat.

Bildungsniveau sinkt

So registrierten die Autoren des Berichts vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) bereits von 2013 bis 2018 einen Anstieg des Anteils an Schulabgängern ohne Abschluss von 5,7 auf fast sieben Prozent. Die Zahl der Schüler, die eine Hochschulreife erwerben, sank im gleichen Zeitraum von 53 auf 50 Prozent. Die Rede ist von einem "anhaltenden Trend", der nun durch die Coronakrise und die wachsende Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt verstärkt werde.

Gerangelt wird demnach vor allem um Jobs, die höhere Abschlüsse erfordern. Da die Spitze der dafür Ausgebildeten schrumpfe, konkurrierten auch Lohnabhängige um diese, die Weiterbildungen benötigten, an denen es allerdings auch mangele. Der Konkurrenzkampf tobe aber auch im Bereich schlecht bezahlter einfacherer Arbeitsplätze, wo ein Ersatz durch Technologie in naher Zukunft eher wahrscheinlich ist.

Kinderarmut trifft auf schlecht ausgestattete Schulen

Nicht verwunderlich: Kinder aus armen Elternhäusern, insbesondere mit Flucht- oder Migrationshintergrund, hätten die schlechtesten Chancen auf dem Arbeitsmarkt, heißt es. Aber auch Jugendliche mit mittleren Abschlüssen scheiterten zusehends an den Anforderungen, welche die Digitalisierung mit sich bringen. Wörtlich schreiben die Autoren beispielsweise in dem Bildungsbericht:

Die Bildungserfolge der Kinder stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der sozioökonomischen Situation der Familie, hier beschrieben durch die Risiken eines niedrigen Bildungsstandes der Eltern, der elterlichen Erwerbslosigkeit und durch die Armutsgefährdung des Haushalts. 2018 war fest jeder dritte Minderjährige von mindestens einer dieser drei Risikolagen betroffen. Der Anteil der Kinder, die mindestens mit einem Risiko aufwachsen, verringert sich nur sehr langsam und betrifft einige Bevölkerungsgruppen ganz besonders: vor allem Alleinerziehende und Familien mit Migrationshintergrund.

Betroffene bräuchten viel mehr Hilfe und Zugang zu modernen Geräten, resümieren die Autoren. Der Umgang mit der modernen Technik werde in staatlichen Bildungseinrichtungen noch immer zu wenig gelehrt. Hier spiele auch eine fehlende gezielte Ausbildung von Lehrern und die mangelhafte Ausstattung der Schulen eine wesentliche Rolle, heißt es in dem Bericht weiter.

Bundesregierung fürchtet Ausbildungskrise

Die Bundesregierung befürchtet zudem eine wachsende Ausbildungskrise. Denn finanziell angeschlagene Unternehmen, denen Profiteinbrüche drohen, sparen bekanntermaßen zuerst an der Förderung von Nachwuchs. Zu Wochenbeginn appellierte deshalb Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) nach einem Gespräch mit den Spitzen der Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände an Unternehmen, trotz Krise ausreichend Lehrstellen anzubieten und warb mit einer geplanten Ausbildungsprämie.

Im Mai 2020 verzeichneten Arbeitsmarktforscher bereits acht Prozent weniger Angebote für Ausbildungsstellen als ein Jahr zuvor. Christian Hoßbach, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Berlin-Brandenburg, appellierte deshalb in dieser Woche an Schulabgänger, sich bereits jetzt intensiv um eine Lehrstelle zu bemühen. Von der Landespolitik forderte er Ersatzangebote für fehlende Ausbildungsplätze.

GEW: Einsatz digitaler Medien verstärkt soziales Gefälle in Schulen 

Die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaften (GEW) forderte nach der Präsentation des Nationalen Bildungsberichts die Politik auf, "endlich ihre Hausaufgaben zu machen".

Der Einsatz digitaler Medien im Rahmen des Homeschoolings hänge sozial und wirtschaftlich benachteiligte Kinder und Jugendliche weiter ab. So verstärke sich das bereits vorhandene soziale Gefälle in Schulen. Die verantwortlichen Landes- und Bundespolitiker müssten "Raum für die Entwicklung pädagogischer Konzepte schaffen, für eine stabile digitale Infrastruktur sorgen, Systemadministratoren einstellen sowie Lehrkräfte und Schüler mit Endgeräten ausstatten", sagte GEW-Vorstandsmitglied Ilka Hoffmann am Dienstag. 

Bereits Anfang Juni hatte die GEW darauf hingewiesen, dass 90 Prozent der Lehrkräfte ihre privaten Computer für die Sicherstellung des Heimunterrichts nutzen müssten. Zudem fehlten vielen Lehrern ebenfalls nötige Kenntnisse. "Die Fortbildungsangebote für Lehrkräfte zur Digitalisierung müssen ausgebaut werden", verlangt Hoffmann. Bisher seien die Schulen zu wenig bei der Entwicklung berücksichtigt worden.

Globale Armuts- und Bildungskrise

Dennoch: Im globalen Vergleich geht es auch ärmeren Schülern in Deutschland noch vergleichsweise gut. 40 Prozent der armen Länder weltweit bieten Berichten zufolge Menschen, die durch den Shutdown in existenzielle Notlagen geraten sind, keinerlei Hilfe an.

Schon vor Corona, so heißt es in dem ebenfalls am Dienstag in Paris vorgestellten UNESCO-Weltbildungsbericht, hatte global jedes sechste Kind – mehr als eine Viertelmilliarde – gar keinen Zugang zu einer Schule. Für Millionen andere Kinder war die Schule auch ein Ort, der über kostenlose Mahlzeiten die Armut der Familien etwas linderte. Durch den Shutdown waren oder sind aber 90 Prozent aller Schüler von Schließungen ihrer Bildungseinrichtung betroffen, wie im Bericht festgestellt wird. Die UNESCO-Generaldirektorin Audrey Azoulay warnte bei der Präsentation der Analyse: "Die Erfahrung zeigt, dass Gesundheitskrisen viele Menschen zurücklassen können." Zu leiden hätten darunter vor allem Mädchen.

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