Der Sexualwissenschaftler Helmut Kentler vermittelte von den 1970-Jahren bis in die 2000er-Jahre Kinder, die als besonders "schwere Fälle" galten, bewusst an zum Teil vorbestrafte pädophile Pflegeväter. Und das unter Obhut der Jugendverwaltung des Berliner Senats. Über den Fall und die Folgen sexualisierter Gewalt sprach RT Deutsch mit Angelika Oetken, die selbst Opfer sexuellen Missbrauchs im familiären Umfeld wurde. Heute engagiert sie sich ehrenamtlich beim Fonds Sexueller Missbrauch.
Was macht sexueller Missbrauch mit den Opfern, im Fall von Helmut Kentlers Methode mit Kindern?
Die Strafttaten werden auf individuelle Weise verübt, die Opfer reagieren sehr unterschiedlich. Wir alle können uns vorstellen, was es für Kinder und auch Jugendliche bedeutet, von Erwachsenen zur sexuellen Befriedigung benutzt zu werden. Das besonders Schlimme an Kentlers Projekt war, dass er Kinder und Jugendliche, die in ihren Familien schon Vernachlässigung und Misshandlung ausgesetzt gewesen waren, an Missbrauchstäter auslieferte.
Welche Mechanismen braucht es, um Missbrauch an Kindern zu entdecken bzw. zu verhindern?
Wir, die für den Schutz von Kindern verantwortlichen Erwachsenen, müssen uns gut informieren und lernen, auch für sexuellen Missbrauch eine angemessene und eindeutige Sprache zu finden. Die Opferraten werden sich nur sehr langsam vermindern lassen, weil wir dazu tief verwurzelte Sichtweisen auf unser Sexualverhalten verändern müssen.
Können solche Erlebnisse überhaupt jemals verarbeitet werden?
Weltweit liegen die Opferraten seit Jahrzehnten bei zehn bis 13 Prozent. D.h. sexuellen Missbrauch zu erfahren, ist ein verbreitetes Risiko einer Kindheit, nicht strafrechtlich relevante sexuelle Übergriffe zu verarbeiten, ein Teil der sexuellen Entwicklung der meisten Minderjährigen. Was Kentler und sein Netzwerk seinen Opfern antat, geht weit über den üblichen Missbrauch hinaus. Hier haben sich Staat und Gesellschaft in besonderer Weise schuldig gemacht. Marco und Sven haben z.B. ihren schwer behinderten Pflegebruder Sascha liebevoll gepflegt, bis ihr Täter Fritz H. dem an einer Lungenentzündung erkrankten jungen Mann ärztliche Hilfe vorenthielt, weshalb er verstarb. Marco und Sven haben, wie die große Mehrheit der Opfer, es ihren Täterinnen und Tätern nicht gleichgetan.
Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie daran denken, dass Kentlers Methoden jahrelang praktiziert und vom Berliner Senat gedeckt wurden?
Helmut Kentler war, orientiere ich mich an seinen Veröffentlichungen, im klinischen Sinne an Pädophilie erkrankt, d.h. seine Einstellung zur Sexualität war von geistigen und seelischen Verzerrungen durchzogen. Gleichzeitig gilt Kentler als einer der Begründer der modernen Sexualwissenschaft und wurde sogar in Prozessen wegen sexuellen Missbrauchs als Gutachter eingesetzt. Hier hat nicht nur der Berliner Senat etwas aufzuarbeiten, sondern alle Menschen und Institutionen, die diesen Mann teils bis heute ein Vorbild nennen und als großen Wissenschaftler bezeichnen, müssen das reflektieren.
Können Sie sich erklären, wie das jahrelang geduldet wurde? Deutschland hat sonst strenge Kontrollmechanismen, oder waren die in den 70er-Jahren noch nicht so weit?
Das Projekt lief bis zum Jahr 2000. Erklärlich ist das nur, wenn man sich vor Augen hält, mit wem Helmut Kentler alles vernetzt war und welche Bedeutung er hatte. Dass dieser Mann überhaupt so einflussreich werden konnte, hat damit zu tun, dass die Nazis echte wissenschaftliche Persönlichkeiten aus Deutschland vertrieben oder sogar getötet hatten. In die Lücken sprangen Typen vom Schlage eines Helmut Kentler. Dass sie derart großes Ansehen genossen, sagt viel über die Bundesrepublik der Zeit bis zum Mauerfall aus.
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