Während öffentlich jenen applaudiert wird, die systemrelevante gesellschaftliche Leistungen bringen, scheint die Versuchung groß, unter dem Vorwand der Corona-Krise gerade an diesem Teil der Gesellschaft zu sparen. Zwar ruderten Teile der Union nach heftiger Empörung über die Forderung des CDU-Wirtschaftsflügels nach einer Absenkung des Mindestlohns wegen der Corona-Krise zurück. Welche der ursprünglich für dieses Jahr geplanten Mindestlohnerhöhungen aber noch umgesetzt werden, bleibt abzuwarten. Denn Lohndumping ist für einen Großteil der Arbeitnehmer weiterhin alltägliche Realität. Bereits vor seiner hierzulande eher späten Einführung im Jahr 2015 stand der Mindestlohn unter Beschuss; Gegner warnten vor angeblichen Einbußen an Arbeitsplätzen. Die derzeitige Krise nutzen Kritiker erneut als Vorwand, um an Mindestlohn und Renten zu sparen.
Dabei erhalten rund 2,4 Millionen Beschäftigte, denen der gesetzlichen Mindestlohn zustehen würde, diesen von ihren Arbeitgebern nicht, wie eine Analyse des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) jüngst aufzeigte. Daraus ergibt sich laut DGB ein Gesamtverlust aus geringerer Kaufkraft, Steuerausfällen und geringeren Einzahlungen in die Sozialversicherungen seit Einführung des gesetzlichen Mindestlohns im Jahr 2015 in Höhe von mehr als 25 Milliarden Euro.
Mehr zum Thema - Mindestlohn absenken, Arbeitszeit erhöhen: Forderung der Unionspolitiker sorgt für heftige Kritik
Gleichzeitig werden Besserverdiener steuerlich entlastet und ausgerechnet große Unternehmen mit Milliarden vom Steuerzahler gestützt. Mitunter derart, dass millionenschwere Aktionäre und Firmenerben profitieren, wie im Fall des Autobauers BMW, der mitten in der Corona-Krise 1,64 Milliarden Euro Dividende ausschüttete, wovon die Hauptaktionäre Susanne Klatten und Stefan Quandt 800 Millionen erhielten. Ein weiteres Beispiel ist der Fall des Fahrzeugzulieferers Knorr-Bremse, der für den Großteil seiner deutschen Standorte Kurzarbeit anmeldete und Kredite über 750 Millionen Euro aufnahm, aber bis zur Hälfte des Jahresgewinns als Dividende ausschütten will. Dessen Chef, Multimilliardär Hans Hermann Thiele, stockte zudem seinen Anteil an der vom deutschen Steuerzahler mit neun Milliarden Euro geretteten Lufthansa von fünf Prozent auf zehn Prozent auf, während große Teile der Lufthansa Großinvestoren wie Banken Versicherungen und Finanzkonzernen gehören – in diesem Fall vor allem BlackRock, aber auch weniger bekannten Instituten wie Amundi, Lansdowne Partners und anderen.
Zugleich nehmen die Vermögenden die Corona-Krise zum Anlass, immer akuter für die private Altersvorsorge zu plädieren. So riet das Deutsche Institut für Vermögensbildung und Alterssicherung jüngst:
Dringlicher denn je muss neben der gesetzlichen Rentenversicherung die private Altersvorsorge gestärkt werden.
Dafür fehlt dem Großteil der Beschäftigten jedoch schlicht das nötige Geld. Laut aktuellen Zahlen der Deutschen Rentenversicherung lagen im Jahr 2018 mehr als 3,2 Millionen Arbeitnehmer in den Gehaltsgruppen zwischen 20.000 und 25.000 Euro sowie zwischen 25.000 und 30.000 Euro Jahreseinkommen. Mehr als 60 Prozent der rentenversicherten Arbeitnehmer und Selbstständige verdienten demnach im Jahr 2018 weniger als das sozialversicherungspflichtige Durchschnittsjahresgehalt in Höhe von knapp 37.900 Euro.
Mehr zum Thema - Mindestlohnbericht 2020: Lohnuntergrenze in Deutschland ist armutsgefährdend
Mit einem Durchschnittsjahresverdienst erwerben Arbeitnehmer einen Rentenanspruch von einem Entgeltpunkt, der laut aktuellem Stand ganze 33 Euro Monatsrente im Westen und knapp 32 Euro im Osten einbringt. Nach 40 Arbeitsjahren mit Durchschnittsverdienst erhält man aktuell eine Bruttomonatsrente von etwa 1.322 Euro (West) oder 1.276 Euro (Ost). Etwa 1,5 Millionen Rentenversicherte kamen im Jahr 2018 auf ein Gehalt oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze von seinerzeit 78.000 Euro in den alten und 69.600 Euro in den neuen Ländern.
Grundrente als Anerkennung der erbrachten Lebensleistung
Demgegenüber erhielten rund 6,4 Millionen Beschäftigte im Jahr 2018 einen Jahresverdienst von weniger als 15.000 Euro. Dieser bringt einen Rentenanspruch von weniger als 0,4 Entgeltpunkten. Bei langjährigen Löhnen in dieser Größenordnung könnten Arbeitnehmer nach den Plänen von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) künftig Anspruch auf Grundrente haben. Vom kommenden Jahr an sollen Berufstätige, die mehr als 33 Jahre in die Rentenversicherung eingezahlt, dabei aber sehr wenig verdient haben, diesen Zuschlag auf ihre gesetzliche Rente bekommen. Die Grundrente wird nicht von den Beitragszahlern, sondern aus Steuermitteln finanziert und erst nach Prüfung von Erspartem und dem Gehalt des Ehepartners ausgezahlt.
Mehr zum Thema - Studie über Vermögen in Deutschland: Die Reichen werden immer reicher, die meisten werden ärmer
Allerdings hat bereits jetzt rund jeder Zweite kein traditionelles Beschäftigungsverhältnis mehr. Immer mehr Deutsche arbeiten in atypischen und prekären Verhältnissen – Minijobs, unfreiwillige Teilzeit- und Leiharbeit, Werk- und Zeitverträgen. Damit ist eine durchgehende Arbeitszeit von mehr als 33 Jahren für die meisten nicht zu erreichen.
Ende des vergangenen Jahres sind bereits rund 1,05 Millionen Menschen über 65 Jahren einer geringfügigen Beschäftigung im gewerblichen Bereich nachgegangen. Weitere 50.000 über 65-Jährige, hatten Minijobs in Privathaushalten, wie Zahlen der Minijob-Zentrale zeigen. Bereits vor Corona ist das Armutsrisiko für über 65-Jährige in Deutschland von 12,5 Prozent im Jahr 2006 auf über 18 Prozent im Jahr 2018 angestiegen.
Die Grundrente war auch Thema einer Expertenanhörung am Montag im Bundestag. Georg Cremer, der frühere Generalsekretär der Caritas, verwies auf die Ungerechtigkeiten und mahnte zur Zügelung zu hoher Erwartungen an die Grundrente: "Nur ein sehr kleiner Teil der Grundsicherungsempfänger wird Grundrente erhalten." Jene Geringverdiener, die weniger als 33 Jahre Vollzeit gearbeitet hatte, gingen hingegen völlig leer aus. Und darunter sind wohl viele, die in den vergangenen Wochen öffentlichen Applaus erhielten und eigentlich von der Grundrente profitieren sollten, weil sie jahrzehntelang zu unterdurchschnittlichen Löhnen arbeiten, Kinder erziehen und womöglich auch noch Angehörige pflegen.
Mehr zum Thema - Abschlussbericht der Rentenkommission: steigende Beiträge, sinkendes Niveau