Der Vorstoß im Freistaat Thüringen zur Lockerung der Corona-Bestimmungen ab dem Ende der kommenden Woche hat zu einer heftigen und zum Teil bizarren politischen Debatte geführt. Der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linken hatte am Wochenende erklärt, er wolle vom 6. Juni an auf allgemeine, landesweite Corona-Beschränkungen verzichten und stattdessen auf "lokale Ermächtigungen" und Eigenverantwortung setzen.
Dem Springerblatt Bild am Sonntag sagte Ramelow:
Wir haben im März auf der Grundlage von Schätzungen von 60.000 Infizierten entschieden – jetzt haben wir aktuell 245 Infizierte. Der Erfolg gibt uns mit den harten Maßnahmen recht, zwingt uns nun aber auch zu realistischen Konsequenzen und zum Handeln. Das heißt: Für Thüringen empfehle ich die Aufhebung der Maßnahmen.
Sollten sich neue Infektionsherde bilden, solle auf lokaler Ebene reagiert werden. Die Verantwortung dafür solle bei den Gesundheitsämtern liegen. Sachsen kündigte an, dem Thüringer Weg folgen zu wollen. Die sächsische SPD-Sozialministerin Petra Köpping erklärte:
Wenn die Zahl der Neuinfektionen weiterhin stabil auf einem niedrigen Niveau bleibt, planen wir für die Zeit ab dem 6. Juni in der nächsten Corona-Schutzverordnung einen Paradigmenwechsel. Statt wie jetzt generell Beschränkungen zu erlassen und davon viele Ausnahmen für das zu benennen, was wieder möglich ist, wird dann generell alles freigegeben und nur noch das Wenige an Ausnahmen benannt, was noch nicht möglich sein wird.
Auch in Sachsen-Anhalt sollen von Donnerstag an fast alle Bereiche unter Auflagen wieder geöffnet werden: Sport in geschlossenen Räumen und in Schwimmbädern, Kultur in Theatern und private Veranstaltungen mit größerem Teilnehmerkreis bis hin zu Kongressen sollen wieder erlaubt sein. Auch Schulen und Kitas werden von Anfang Juni an wieder für alle Kinder und Jugendliche öffnen.
Aus anderen Bundesländern kam hingegen scharfe Kritik am Thüringer Weg – auch von Politikern auf Bundesebene. Der CDU-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der Anfang Mai die Anzahl der Infizierten um etwa ein Drittel zu hoch angegeben hatte, kritisierte die Thüringer Ankündigung. Bild zitierte den Minister am Montag mit den vielsagenden Worten:
Es darf in keinem Fall der Eindruck entstehen, die Pandemie wäre schon vorbei.
Auch SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil kritisierte Ramelow scharf. Er ging aber nicht auf dessen Argumente ein, sondern warf ihm vor, sich mit der Lockerung der Corona-Maßnahmen von "Verschwörungsanhängern" leiten zu lassen. Ebenfalls gegenüber Bild sagte der SPD-Mann:
Ich erwarte von einem Politiker, dass man führt, dass man Orientierung gibt, aber dass man sich nicht von ein paar Tausend Menschen, die sich mit Verschwörungstheorien auf die Plätze stellen, leiten lässt. Wenn der einzige Applaus, den man bekommt, von Attila Hildmann und Christian Linder kommt, muss Herr Ramelow sich fragen, ob er alles richtig gemacht hat.
Ramelows Plan sei gefährlich, weil er den Eindruck vermittle, dass alles überwunden sei: "Das ist ein völlig falsches Signal". Der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki forderte von Klingbeil eine Entschuldigung für seine Äußerungen. Gegenüber der Nachrichtenagentur dpa nannte es Kubicki eine Schande, FDP-Chef Lindner in eine Reihe mit "Verschwörungstheoretikern" zu stellen. Kubicki weiter:
Wer, wie Klingbeil, andere politische Auffassungen in die Nähe von Aluhüten stellt, hat sich aus einem ernsthaften Diskurs über die Zukunft dieses Landes verabschiedet und sollte sich überlegen, ob er seinem Amt gewachsen ist.
Besonders scharfe Kritik am Thüringer Weg kam aus Bayern. Markus Söder, Ministerpräsident dieses Freistaates, nannte die Ankündigung Ramelows gegenüber dem Bayerischen Rundfunk ein "fatales Signal". Bei einer Aufhebung der Corona-Maßnahmen seien die Menschen dem Virus "schutzlos ausgeliefert". In Nürnberg sagte Söder am Montag:
Wir werden uns da noch ein Konzept überlegen müssen, wie wir darauf reagieren. Ich möchte nicht, dass Bayern noch mal infiziert wird durch eine unvorsichtige Politik, die in Thüringen gemacht wird.
In Bayern wurden nach Zahlen vom Mittag des 26. Mai bisher insgesamt 46.456 positive Getestete registriert, in Thüringen 2.877. Demnach gab es zuletzt an einem Tag in Thüringen sechs neue Fälle, in Bayern 130.
Söder hatte in der Corona-Krise spät reagiert und so seinerzeit beispielsweise den Fasching in Bayern nicht abgesagt. Dann aber profilierte er sich nach dem Muster des österreichischen Kanzlers Sebastian Kurz öffentlichkeitswirksam als Vertreter einer harten Linie in der Corona-Krise und trug entscheidend dazu bei, dass auch Bundeskanzlerin Angela Merkel sich für einen scharfen Lockdown und die Schließung von Schulen und Kindergärten einsetzte.
Kritiker in den sozialen Netzwerken warfen Söder vor, mit der Kritik an Ramelow auch eine Rechtfertigung der eigenen Politik zu betreiben, so etwa bereits die Absage des Oktoberfests, die angesichts des Verlaufs der Infektion möglicherweise überzogen ist.
Unterdessen wird erst einmal keine Videokonferenzen zwischen Kanzlerin Merkel und den Ministerpräsidenten der Bundesländer mehr geben. Merkel wolle sich das "erstmal nicht mehr antun", meldete Bild unter Berufung auf das Umfeld der Kanzlerin.
Der Diskurs, dass die Kanzlerin mit ihrer Mahnung zur Vorsicht bei den Öffnungen gewissermaßen die Vernunft repräsentiere und die auf schnellere Öffnungen drängenden Ministerpräsidenten angeblich nur auf den eigenen Vorteil schielten, bestimmt immer noch den medialen Mainstream, wird aber zunehmend aufgebrochen. Die breite sachliche Debatte über die Kollateralschäden der staatlichen Maßnahmen lässt indes weiter auf sich warten.
Ramelow verteidigte am Montag noch einmal seinen Kurs gegen die heftige Kritik. Der dpa sagte er, die geringe Zahl der Infektionen in seinem Bundesland müsse Konsequenzen haben:
Wir müssen aus dem Krisenstatus raus.
Menschen dürften nicht weiter gezwungen werden, die Aufhebung von Verboten vor Gericht zu erstreiten, wie zuletzt die Öffnung von Fitnessstudios. Damit stelle er nicht den Infektionsschutz an sich in Frage, so der gebürtige Niedersachse. Es gelte weiterhin, Abstand zu halten und dort einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, wo sich Menschen nahe kommen, wie in öffentlichen Verkehrsmitteln.
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