Es sind wohl vor allem ungewöhnliche, wenn nicht gar extreme gesellschaftliche Herausforderungen und die sich daraus ergebenden Kontroversen, an denen sich ablesen lässt, wie es tatsächlich um Schlagworte wie "Meinungsfreiheit" bestellt ist. Im Zuge der Corona-Krise drängt sich Beobachtern der Verdacht auf, dass es zwar gestattet ist, die eigene Meinung zu äußern, jedoch nur in einem eng gesteckten Rahmen.
Wer diese Leitplanken des Erlaubten missachtet, muss mit gesellschaftlicher und beruflicher Marginalisierung rechnen. Im schlimmsten Fall droht die soziale Ächtung durch Politik und Medien.
Die regelmäßig stattfindenden Demonstrationen gegen die Corona-Beschränkungen der Bundesregierung sind ein aktuelles Beispiel für das um sich greifende Phänomen. Die sich dort versammelnden Menschen werden unisono als Verschwörungstheoretiker, Reichsbürger, Impfgegner, Rechtsextreme, Antisemiten, Querfrontler, aber auch Linksextreme verunglimpft. Viel Spielraum bleibt da für Otto Normalverbraucher nicht mehr, ohne ebenfalls mit einem der kursierenden Kampfbegriffe belegt zu werden.
Am Samstag versammelten sich in Aachen auf der sogenannten "Mahnwache für unsere Grundrechte" des Bündnisses "Kritische Aachener BürgerInnen zum Erhalt der Grundrechte" wieder Hunderte Menschen. An der von dem linken Aktivisten Walter Schumacher angemeldeten Demonstration nahm auch der Aachener Linke-Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Fraktionsvorsitzende Andrej Hunko teil.
Ich habe mich über den Auftritt von Andrej Hunko sehr
geärgert", erklärte am Mittwoch der Linke-Bundestagsabgeordnete Stefan Liebich gegenüber der Welt.
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Mit seiner Teilnahme sende Hunko "ein völlig falsches Signal", war sich Liebich sicher. Zudem habe der Fraktionsvize in einer Rede "Stichworte genannt, die an viele Verschwörungstheorien anknüpfen".
Was war geschehen? Neben seiner bloßen Teilnahme hatte Hunko zudem das Wort ergriffen. Dabei hatte er unter anderem über den Microsoft-Gründer und Milliardär Bill Gates gesagt:
Es kann einfach nicht sein, dass der zweitreichste Mann der Welt einen solchen Einfluss auf die Gesundheitspolitik der gesamten Menschheit und auch auf unsere Medien hat.
Aufgrund dessen gilt Hunko demnach als Stichwortgeber für vermeintliche Verschwörungstheoretiker. Zu diesem zählen dann offensichtlich auch die sogenannten Qualitätsmedien. Nicht wenige unter ihnen äußerten sich – als dies noch politisch opportun war – in ganz ähnlicher Weise über den Silicon-Valley-Guru Gates.
Die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung ist eine der einflussreichsten Investoren für die globale Gesundheit. Das hat Auswirkungen auf die politische Agenda: Man setzt bevorzugt auf technische Lösungen, soziale Faktoren für Gesundheit wie Ungleichheit, fehlende politische Teilhabe und Menschenrechte werden weitgehend ausgeblendet. Die Förderpolitik der Stiftung zementiert so ungerechte Systeme, statt sie zu verändern", zitierte Ende Januar 2017 das Ärzteblatt unter dem Titel "Kritik an Dominanz der Gates-Stiftung in der Weltgesundheitsorganisation".
Mit derlei aktuell kaum mehr vorstellbaren kritischen Berichten stand man jedoch längst nicht alleine da.
80 Prozent ihres Budgets bezieht die Weltgesundheitsorganisation (WHO) inzwischen aus zweckgebundenen Spenden. Damit üben die Geldgeber maßgeblichen Einfluss aus – und bringen oft eigene wirtschaftliche Interessen mit", hieß es Mitte Juli 2018 mit Verweis auf Bill Gates etwa beim Deutschlandfunk.
Und weiter:
Woher kommen eigentlich die Mittel, die Bill Gates einsetzen kann? Diese Frage wird kaum gestellt. Er hat das Geld ja aus Anlagevermögen. Er legt sein Kapital in bestimmten Industriezweigen an, die, wenn man genau hinschaut, allesamt etwas zu tun haben mit krankmachenden Bedingungen.
Nur um abschließend eines der vielen weiteren Beispiele für die Flexibilität im Umgang mit den aktuell kursierenden Kampfbegriffen zu nennen, titelte etwa der SWR im Januar 2019: "Was gesund ist, bestimmt Bill Gates".
Ebenfalls kritisch gegenüber Gates hatte Hunko zudem erklärt, dass er auf einer Kundgebung des Mitte-Links-Spektrums gesprochen habe und nicht etwa auf einer sogenannten "Hygiene-Demo" vermeintlicher "Corona-Rebellen".
Ich habe keine Rechtsextremen oder durchgeknallte Verschwörungsgläubige auf der Kundgebung gesehen. Ich habe mich genauso wie andere Redner klar von rechten Spinnern distanziert", erläuterte Hunko.
Die Bundessprecherin der Linksjugend, Anna Westner, mochte sich mit derlei Details zuletzt allerdings nicht aus dem Konzept bringen lassen:
Wir erwarten, dass unsere Bundestagsabgeordneten von solchen Aluhutdemos mehr als nur 1,5 Meter Abstand nehmen.
Auch Linken-Parteichefin Katja Kipping äußerte sich zur vermeintlichen Causa Hunko.
Die Verharmlosung von Corona ist nicht Protest gegen die Obrigkeit, sondern rücksichtslos gegenüber sozial Schwachen und verletzlichen Teilen der Bevölkerung", gab Kipping zu Protokoll.
Auf der Demonstration in Aachen hatte Hunko es ebenfalls verweigert, sich der politisch gebotenen Kritik am früheren SPD-Bundestagsabgeordneten und Lungenfacharzt Wolfgang Wodarg anzuschließen.
Menschen wie Wodarg, so Hunko, würden "aggressiv aus dem öffentlichen Diskurs ausgegrenzt" und zudem "übel diffamiert". Diese Arbeit werde auch von den "Mainstream-Medien" erledigt, deren wirken "oft eher an Meinungsmache erinnert denn an journalistische Aufklärung".
Hunko war sich zudem sicher, dass es "völlig falsch" sei, wenn sich die Linke "als konsequenteste Lockdown-Partei" positioniere.
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