Ein Oberregierungsrat im Bundesinnenministerium (BMI) ist mit einem Dienstverbot belegt worden, weil er eine kritische Analyse des staatlichen Krisenmanagements in der Corona-Krise erarbeitet und verschickt hatte. Außerdem soll gegen ihn ein Disziplinarverfahren eröffnet werden. Der Name des Beamten wird in der Presse mit Stephan Kohn angegeben. Der 57-Jährige arbeitet in der Abteilung Krisenmanagement und Bevölkerungsschutz, er ist als Referent im Referat KM4 für "Kritische Infrastrukturen" zuständig.
Das von Kohn erstellte 83-seitige Papier trägt den Titel "Coronakrise 2020 aus Sicht des Schutzes Kritischer Infrastrukturen". Der Beamte verschickte es am Freitag der vergangenen Woche per Mail an seinen Abteilungsleiter, an den Corona-Krisenstab und an das Kanzleramt, später in Kopie an alle Landesregierungen. Von einem Informanten aus dem Kreis der Empfänger gelangten die Mail und das Dokument an den Blog Tichys Einblick, der den Vorgang öffentlich machte.
Der Inhalt von Kohns Analyse ist eine Fundamentalkritik am Krisenmanagement der Bundesregierung in der Corona-Krise. Der Beamte betont zunächst, dass es keine adäquaten Instrumente zur Gefahrenanalyse und -bewertung gebe. Die COVID-19-Pandemie sei allem Anschein nach nicht mehr als ein "globaler Fehlalarm", die Gefahr für die Bevölkerung vermutlich zu keinem Zeitpunkt größer gewesen als sonst, das Virus nicht gefährlicher als viele andere Viren.
Den Kollateralschaden der Schutzmaßnahmen schätzt Kohn inzwischen höher ein als den erkennbaren Nutzen, auch in Bezug auf ihre gesundheitliche Folgen. So seien 2,5 Millionen Menschen in Folge der Regierungsmaßnahmen nicht versorgt worden. Durch abgesagte Operationen und nicht erfolgte Behandlungen könnten einige Zehntausend Patienten gestorben sein, wobei sich die voraussichtliche Sterberate nicht seriös abschätzen lasse:
Der (völlig zweckfreie) Kollateralschaden der Coronakrise ist zwischenzeitlich gigantisch. Ein großer Teil dieses Schadens wird sich sogar erst in der näheren und ferneren Zukunft manifestieren. Dies kann nicht mehr verhindert, sondern nur noch begrenzt werden.
Die Schutzmaßnahmen gefährdeten mittlerweile auch die kritischen Infrastrukturen, deren Zusammenbrechen tatsächlich fatale Folgen haben könne. Der Oberregierungsrat empfiehlt eine kurzfristige Aufhebung aller Schutzmaßnahmen, um Schaden von der Bevölkerung abzuwenden. Eine Konsequenz des mangelhaften Krisenmanagements sei die Vermittlung nicht stichhaltiger Informationen und damit die Desinformation der Bevölkerung gewesen. Kohn wörtlich:
Ein Vorwurf könnte lauten: Der Staat hat sich in der Coronakrise als einer der größten Fake-News-Produzenten erwiesen.
In einer Schlussbemerkung rechtfertigte der Beamte sein Vorgehen. Er habe seine Analyse ohne vorherige Konsultation anderer zuständiger Stellen direkt versendet, weil erstens Gefahr im Verzug sei und die staatlichen Maßnahmen täglich zu schweren materiellen und gesundheitlichen Schäden führten.
Zweitens könne angesichts des Gegensatzes zwischen der konstatierten Lage und den politischen Entscheidungen der Eindruck entstehen, dass es beim Krisenmanagement eher um die Glaubwürdigkeit der Regierungsparteien als um den Schutz der Bevölkerung gehe. Einer aus einer derartigen Wahrnehmung erwachsenden "ungünstigen Dynamik" könne durch rationale Folgeentscheidungen entgegengewirkt werden.
Das Innenministerium gab nach Bekanntwerden des Papiers noch am Sonntag eine Pressemitteilung heraus, in dem es die Analyse zu einer Privatmeinung eines Mitarbeiters erklärte:
Ein Mitarbeiter des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat hat in einem mehrseitigen Dokument unter Verwendung des BMI-Briefkopfes und der dienstlichen Kommunikationskanäle seine kritische Privatmeinung zum Corona-Krisenmanagement der Bundesregierung verbreitet.
Zwar habe auch der Verfasser des Papiers das Recht auf freie Meinungsäußerung, allerdings habe er seine "Analyse" (das BMI setzte den Begriff in Anführungszeichen) außerhalb seiner "sachlichen Zuständigkeit" und Organisationseinheit erstellt. Er habe dafür weder einen Auftrag noch eine Autorisierung erhalten. Der Beamte habe seine private Meinungsäußerung unter Verwendung behördlicher Symbole verfasst und öffentlich zugänglich gemacht und auf diese Weise den Eindruck erweckt, die offizielle Auffassung einer Behörde zu verbreiten. Das sei nicht akzeptabel und mit den allgemeinen Pflichten im öffentlichen Dienst unvereinbar.
Es sei mittlerweile sichergestellt, dass der Mitarbeiter nicht weiter den Eindruck erwecken könne, für das Ministerium zu handeln. Die Sache werde weiter aufgeklärt. Am Dienstag berichtete die Nachrichtenagentur dpa, dass der Beamte mit einem Dienstverbot belegt worden sei. Sie zitierte das Ministerium mit der Aussage, es gebe nun ein "Verbot zur Führung der Dienstgeschäfte" nach dem Bundesbeamtengesetz. Am Mittwochnachmittag gaben Innenminister Horst Seehofer und Staatssekretär Hans-Georg Engelke in einer Pressekonferenz bekannt, dass gegen den Oberregierungsrat ein Disziplinarverfahren eingeleitet werde.
An der Darstellung des BMI, die Analyse des Mitarbeiters sei eine mit behördlichen Symbolen versehene Privatmeinung, gibt es Zweifel. Die Kurzfassung beinhaltet einschließlich Vorbemerkung 93 Seiten, die Langfassung soll sogar 192 Seiten lang sein. Kohn arbeitete seit März an seinem Papier, ein Zwischenbericht soll an Kollegen und Vorgesetzte gegangen und teilweise auf Zustimmung gestoßen sein. Seine Arbeit an der Analyse war im Ministerium bekannt.
Der Zwischenbericht ging laut Tichys Einblick an Kohns Vorgesetzten und einige Kollegen. Dieser soll den Beamten gebeten haben, in dieser Angelegenheit nicht im Namen des Referats zu agieren, weil er den dienstlichen Bezug nicht sehe. Eine Weisung zur Einstellung der Arbeit gab es offenbar nicht. Gleichzeitig soll der Referatsleiter die frühe Fassung der Analyse selbst an weitere Kollegen "zur Kenntnis" weitergeleitet haben.
Auch die Aussage, dass Kohn nicht zuständig gewesen sei, ist zweifelhaft. In dem Papier geht es ausdrücklich auch um den Einfluss des Krisenmanagements auf die "Kritischen Infrastrukturen", für die der Referent zuständig ist. Tichys Einblick zitiert außerdem einen Kenner des Ministeriums mit dieser Aussage:
BMI tut so, als wäre der Bericht eine private Meinung eines Mitarbeiters unter missbräuchlicher Verwendung des Briefkopfs. Zu Ihrer Info meine Einschätzung: Wenn ich es richtig sehe, war Herr K. für das Thema durchaus zuständig (er war nicht Mitarbeiter z.B. der Sportabteilung) und als stellvertretender Referatsleiter (Oberregierungsrat) durfte er nach Para 17 Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien grundsätzlich alle seine Schreiben an die Länder und Ressorts schlusszeichnen. Eine andere Frage ist, ob er vorher intern wegen der politischen Bedeutung die Zustimmung hätte einholen müssen, aber das ändert letztlich nichts am Charakter, dass es ein offizielles BMI-Schreiben und kein privates Schreiben unter falschem Briefkopf ist.
Das Medienecho auf das Bekanntwerden der Analyse konzentrierte sich zunächst ausschließlich auf das angebliche Fehlverhalten des Beamten und auf die Reaktionen des Ministeriums. Über den Inhalt wurde nur zurückhaltend berichtet, wenn, dann wurde er wenigstens implizit als unzutreffend dargestellt.
Am Montag dann meldeten sich die Mediziner zu Wort, auf deren Expertise Kohn bei der Erarbeitung seiner Analyse zugegriffen hatte. In einer gemeinsamen Presseerklärung verteidigten sie den "couragierten Mitarbeiter" und forderten das Ministerium nachdrücklich auf, sich mit den Sachargumenten der Analyse zu befassen.
Ebenfalls am Montag erschien ein Artikel bei Zeit Online, der die Inhalte der Argumente immerhin wiedergab, wenn auch in einem eher kritischen Kontext. Am Mittwoch erschienen auch in den Mainstreammedien Artikel, die sich ernsthaft mit den Inhalten der Studie befassten, so etwa auf den Seiten von Merkur, Bild und Frankfurter Neue Presse.
Vor zwei Jahren versuchte das langjährige SPD-Mitglied Kohn beim Sonderparteitag seiner Partei in Wiesbaden, für den Parteivorsitz zu kandidieren, erhielt aber nicht die für die Kandidatur nötige Unterstützung. Gegenüber der Nordwest-Zeitung kritisierte er seinerzeit die damalige Parteivorsitzende Andrea Nahles, die den Erneuerungsprozess der Partei "vor die Wand fahren" werde.
Ebenfalls 2018 berichtete Kohn gegenüber der Zeit von seinen für ihn enttäuschenden Erfahrungen mit der evangelischen Kirche beim Thema sexuelle Gewalt. In den achtziger Jahren hatte er in jugendlichem Alter eigene Missbrauchserfahrungen mit einem Pfarrer in Schleswig-Holstein öffentlich gemacht.
Die Karriere des Oberregierungsrats im Innenministerium dürfte erst einmal beendet sein. Seit dem Bekanntwerden der von ihm erarbeiteten Analyse zum Krisenmanagement der Regierung in der Corona-Krise hat er sich nicht öffentlich geäußert. Der Zeit antwortete er auf eine Anfrage zum Thema:
Ich kann Ihnen dazu keine Auskunft geben. Ich bin Beamter und will mich ordnungsgemäß verhalten.
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