Wachsende Corona-Proteste in Deutschland beunruhigen Politik – Warnung vor Radikalisierung

Die Proteste gegen die Corona-Beschränkungen weiten sich aus. Tausende Menschen gingen am Wochenende in verschiedenen Städten auf die Straße. Parteiübergreifend warnen nun Politiker vor der Gefahr für die Demokratie, die von den Protesten angeblich ausgehe.

Der Protest gegen die Beschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens im Zuge der Corona-Krise nimmt trotz zahlreicher Lockerungen der Vorschriften stetig zu. Er hat sich inzwischen auf ganz Deutschland ausgeweitet. Am Samstag demonstrierten in Berlin, Frankfurt a.M., Köln, München und Stuttgart, aber auch in kleineren Städten, Tausende Menschen – oft unter Missachtung des Verbots großer Versammlungen und der Abstandsregeln. Die Polizei schritt trotz der Verstöße nicht immer ein. In Berlin nahm sie allerdings wegen des Nichteinhaltens der Regeln zur Corona-Eindämmung mehr als 100 Menschen vorübergehend fest.

In München hatten sich auf dem Marienplatz rund 3.000 Menschen versammelt – angemeldet waren laut Polizei nur 80 Teilnehmer. Aus "Gründen der Verhältnismäßigkeit" habe man die Demonstration laufen lassen. Alle hätten sich friedlich verhalten. Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) kritisierte die Demonstranten scharf. "Grundsätzlich habe ich Verständnis dafür, dass die Menschen sich durch die getroffenen Maßnahmen in ihrer persönlichen Freiheit eingeschränkt fühlen und baldmöglichst wieder zu einer gewissen Normalität zurückkehren möchten", sagte er.

Gar kein Verständnis habe ich für Aktionen oder Demonstrationen, die durch fehlende Distanz und Mund/Nasenschutz jede positive Entwicklung des Infektionsgeschehens konterkarieren und weitere Lockerungen eher gefährden als ermöglichen.

Reiter bezeichnete es auch als "absolut unerträglich", dass politisch extrem rechte Gruppierungen versuchten, die Stimmung zu nutzen, um demokratiefeindliche Hetze zu verbreiten.

In Stuttgart hatten sich auf dem Cannstatter Wasen nach Angaben der Polizei am Samstag rund 5.000 Menschen versammelt. Größere Probleme habe es nicht gegeben. Die Vorgaben etwa zum Abstand seien meist eingehalten worden, die Veranstaltung sei friedlich geblieben.

Dagegen sprach die Polizei in Berlin nach einer Demonstration auf dem Alexanderplatz von "teils großer Aggressivität". Dort hätten sich etwa 1.200 Menschen versammelt. Es habe Angriffe auf Polizeibeamte gegeben, Flaschen seien geflogen, die Abstandsregeln oft nicht eingehalten worden. Die Beamten reagierten unter anderem mit dem Einsatz von Pfefferspray. 86 Menschen wurden festgenommen. Auch bei einer Demonstration am Reichstagsgebäude in Berlin wurden wegen des Nichteinhaltens der Regeln 45 Menschen vorübergehend festgenommen.

Parteiübergreifende Einigkeit

Führende Politiker warnen nun vor einer Radikalisierung der Proteste, an denen sich mancherorts auch Rechtsextreme und sogenannte Verschwörungstheoretiker unter die Demonstranten mischen würden.

Wer die Pandemie leugne und zum Verstoß gegen Schutzvorschriften aufrufe, nutze die Verunsicherung der Menschen schamlos dafür aus, die Gesellschaft zu destabilisieren und zu spalten, sagte SPD-Chefin Saskia Esken den Zeitungen der Funke Mediengruppe. "Wegschauen und Schweigen hilft nicht. Hier müssen wir gegenhalten und uns als streitbare Demokraten erweisen." Esken betonte, Gewalt gegen Polizisten sei ebenso wenig zu tolerieren wie Angriffe gegen Journalisten.

Ähnlich äußerte sich CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak: "Wir lassen nicht zu, dass Extremisten die Corona-Krise als Plattform für ihre demokratiefeindliche Propaganda missbrauchen", sagte er der Augsburger Allgemeinen. Die CDU nehme die Sorgen der Bürger ernst.

Aber klar ist auch, dass wir konsequent gegen diejenigen vorgehen, die jetzt die Sorgen der Bürger mit Verschwörungstheorien anheizen und Fake-News in Umlauf bringen", so Ziemak.

Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz nannte es legitim, Maßnahmen infrage zu stellen und Unmut zu äußern.

Aber es laufen all jene mit, die das System grundsätzlich infrage stellen und Politiker insgesamt für Marionetten von George Soros und Bill Gates halten", kritisierte er in der Welt

Der ehemalige Herausgeber vom Handelsblatt, Gabor Steingart, warnt davor, die Demonstranten in die rechte oder in die Ecke der sogenannten Verschwörungstheoretiker zu stellen. "Die Botschaften von Transparenten und Sprechchören belegen diesen Vorwurf in seiner Pauschalität nicht", so Steingart in seinem täglichen "Morning Briefing". Bei den Demos habe sich ein "buntes Potpourri von Menschen" zusammengefunden, die man nicht einfach als "Spinner" abtun könne.

Aber Fakt ist, es geht um Ängste, die allein dadurch, dass sie massenhaft artikuliert werden, eine politische Kraft entfalten, die wiederum Fakten schafft. Die Restriktionen der Corona-Politik, die wie im Handstreich die Gewerbefreiheit, das Recht am Eigentum, die Meinungsfreiheit und das Versammlungsrecht eingeschränkt haben und zum Teil noch immer tun, rufen mit Zeitverzögerung allergische Reaktionen hervor. Die etablierte Parteipolitik und ihre mediale Begleitkohorte haben die Meinungsführerschaft bei diesem Thema verloren", schreibt Steingart.

Teilnahme von Thüringens FDP-Chef sorgt für Kritik

An den Protesten hatte sich am Samstag auch der Thüringer FDP-Chef und kurzzeitige Ministerpräsident Thomas Kemmerich beteiligt. Auf Bildern war zu sehen, wie er in Gera ohne Mundschutz dicht neben anderen Teilnehmern lief. FDP-Chef Christian Lindner übte scharfe Kritik:

Wer sich für Bürgerrechte und eine intelligente Öffnungsstrategie einsetzt, der demonstriert nicht mit obskuren Kreisen und der verzichtet nicht auf Abstand und Schutz.

Man dürfe sich nicht in die Nähe von Rechtsextremen, der AfD, Linken oder Verschwörungstheoretikern begeben. "Das schwächt das Anliegen einer seriösen Partei der Mitte", betonte Lindner. Über ein Partei-Ausschlussverfahren wolle er öffentlich nicht sprechen. FDP-Vorstandsmitglied Marie-Agnes Strack-Zimmermann hatte Kemmerichs Parteiaustritt gefordert.

Thüringens Ex-Ministerpräsident räumte ein, sich während der Kundgebung am Wochenende falsch verhalten zu haben und betonte, keine Sympathien für die AfD zu pflegen.

Für Aufsehen sorgte auch das Papier eines Mitarbeiters des Bundesinnenministeriums, in dem dieser die Strategie gegen die Corona-Pandemie – unter dem offiziellen Briefkopf des Ressorts – massiv in Zweifel zieht und nach Medienberichten von einem "globalen Fehlalarm" spricht. Das Ministerium wies das Schreiben am Sonntag als "Privatmeinung" zurück. Laut Spiegel wurde der Mann von seinen Dienstpflichten entbunden.

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(rt/dpa)