Der Hamburger SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs hat am Dienstag mit sofortiger Wirkung den Bundestag verlassen. Vorausgegangen war eine fraktionsinterne Niederlage des 56-Jährigen. Kahrs hatte schon länger darauf hingearbeitet, neuer Wehrbeauftragter des Bundestages zu werden. Die Fraktionsspitze allerdings schlug nicht Kahrs, sondern die Berliner Abgeordnete Eva Högl für dieses Amt vor. Sie soll am Donnerstag als Nachfolgerin des scheidenden Amtsinhabers Hans-Peter Bartels vom Parlament gewählt werden.
Nach dieser Niederlage kündigte Kahrs, der dem Bundestag seit 1998 angehörte, den Rücktritt von seinem Mandat und allen politischen Ämtern zum Ablauf Ende des Tages an. Er löschte auch seine Profile in den sozialen Netzwerken, in denen er zuvor sehr präsent gewesen ist. Auf seinem Internetauftritt findet sich nur noch diese Erklärung, die seinen plötzlichen und unerwarteten Rücktritt mit seiner Nichtberücksichtigung bei der Bestimmung des Wehrbeauftragten begründete:
Sehr geehrte Damen und Herren,
Für das Jahr 2020 habe ich mir seit Langem einen persönlichen Neuanfang vorgenommen. Nach 21 Jahren im Deutschen Bundestag, seit fast 40 Jahren in der SPD, wird es Zeit, für mich andere Wege zu gehen. Ich wollte einen Neuanfang in der Politik. Da mir die Bundeswehr sehr am Herzen liegt, als Oberst der Reserve, ehemaliges Mitglied im Verteidigungsausschuss oder als langjähriger Berichterstatter für das Verteidigungsministerium im Haushaltsausschuss, hätte ich gerne für das Amt des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages kandidiert. Für das Amt des Wehrbeauftragten bewirbt man sich nicht, man wird vorgeschlagen. Der Fraktionsvorsitzende hat Eva Högl vorgeschlagen. Ich akzeptiere dies und wünsche ihr viel Erfolg.
Nun suche ich außerhalb der Politik einen Neuanfang und trete mit Ablauf des 05. Mai 2020 von meinem Mandat und allen politischen Ämtern zurück. Ich danke all meinen Weggefährten, meinen Freunden und politischen Begleitern vieler Jahre. Ich bin meiner Partei zutiefst verbunden und wünsche ihr von ganzem Herzen Glück und Erfolg.
Ihr Johannes Kahrs
Kahrs war nicht irgendein Parlamentarier, sondern galt als extrem einflussreich und intrigant, bewundert und gefürchtet, dabei war er in der Wahl der Mittel als nicht zimperlich bekannt. Auch in Reaktionen ihm wohlmeinender Politiker wurde er als laut, polarisierend, "mit allen Wassern gewaschen" und fintenreich beschrieben.
In Artikeln über ihn und sein Wirken finden sich Bezeichnungen wie "Strippenzieher", "Spinne im Netz" und "Dr. Mabuse von Hamburg". In seiner Funktion als Fraktionssprecher im Haushaltsausschuss des Bundestages konnte er immer wieder beträchtliche Mittel nach Hamburg lenken. Unter anderem schuf er damit ein Netz persönlicher Abhängigkeiten, das sogenannte "House of Kahrs".
Nach einem Bericht der FAZ von 2009 baute er Ende der neunziger Jahre in Hamburg eine Juso-Organisation "mit ganz jungen Leuten" auf. Wichtige Posten in der Stadt sind seit Jahren mit seinen Vertrauten besetzt; wer für die SPD in den Hamburger Senat wollte, soll an Kahrs nicht vorbeigekommen sein. In dem Artikel wird auch berichtet, wie Kahrs am Anfang seiner Karriere eine innerparteiliche Konkurrentin mit nächtlichen Drohanrufen einschüchterte. Nach einem Vergleich vor Gericht entschuldigte er sich und zahlte eine Entschädigung. Forderungen von Genossen, von seinen Ämtern zurückzutreten und aus der Partei auszutreten, saß er damals aus.
Der SPD-Mann verfügt auch seit Langem über sehr gute Verbindungen in die Wirtschaft. Wiederholt setzte er sich für die Belange der Rüstungsindustrie ein. Als einziger SPD-Abgeordneter stimmte er 2011 gegen einen Antrag, der die Lieferung von Kriegswaffen nach Saudi-Arabien unterbinden wollte. Kahrs' Kreisverband Hamburg-Mitte, dessen Vorsitzender er bis zu seinem Rücktritt war, erhielt wiederholt zum Teil erhebliche Spenden aus diesem Wirtschaftssektor.
Auch die Hamburger Warburg-Bank bedachte den Kreisverband 2017 mit einer großzügigen Spende, nachdem Kahrs mit deren Chef über die Cum-Ex-Affäre gesprochen hatte. Im Februar 2020 wurde bekannt, dass der SPD-geführte Senat auf eine Erstattung nicht entrichteter Steuern in Höhe von 47 Millionen Euro von der Hamburger Warburg-Bank "verzichtet" hatte.
Kahrs war auch einer der Sprecher des Seeheimer Kreises, dem Zusammenschluss der rechten SPD-Bundestagsabgeordneten. Er war zudem stellvertretendes Mitglied der Parlamentarischen Versammlung der NATO und ehrenamtliches Mitglied im Präsidium der Deutschen Atlantischen Gesellschaft, einem Lobbyverein der NATO. Der seit Jahren offen homosexuell lebende Politiker war auch Beauftragter für die Belange von Lesben und Schwulen in seiner Fraktion.
In früheren Jahren war Kahrs im Bundestag vor allem als Kritiker der Linken aufgefallen. So hatte er sich gegen ein rot-rot-grünes Bündnis ausgesprochen und hielt im Oktober 2015 eine "vertrauensvolle Zusammenarbeit" mit der damaligen Vorsitzenden der Linksfraktion, Sahra Wagenknecht, für nicht möglich. Später arbeitete er sich vor allem an der AfD ab, deren Abgeordnete er als "rechtsradikal" bezeichnete und als "hässlich" beschimpfte.
Vor allem in der AfD wurde der Rücktritt Kahrs' dann auch mit Genugtuung aufgenommen. Allerdings zweifelten nicht nur AfD-Politiker an der von Kahrs angeführten Begründung für seinen vollständigen Rückzug aus der Politik, ein gutes Jahr vor Ende der Legislatur. In den sozialen Netzwerken wurde wiederholt auf einen Anruf des Youtubers Klemens Kilic bei Kahrs verwiesen, bei dem er sich als dessen Bundesbruder aus einer Studentenvereinigung ausgab und dem Politiker angeblich das Eingeständnis entlockte, bei seinem juristischen Staatsexamen betrogen zu haben. Passend dazu berichtete die Rheinische Post am Dienstag, dass Kahrs wegen einer parlamentarischen Anfrage in Hamburg zu seinem Examen unter Druck stehe.
Doch es gibt noch viel schwerere, bislang unbewiesen Vorwürfe gegen Kahrs, die nun ebenfalls mit seinem Rücktritt in Verbindung gebracht werden. Tom Radtke, damaliger Kandidat der Linken für die Hamburger Bürgerschaftswahl, brachte Kahrs bereits Ende Januar mit Pädophilie in Verbindung. In einem Tweet schrieb er damals, offensichtlich auf Kahrs bezugnehmend:
Der Hamburger Bundestagsabgeordnete sollte aufpassen, sonst ergeht es ihm wie seinem ehemaligen Fraktionskollegen Edathy. Ich kenne die Namen einiger seiner Opfer.
In einem weiteren Tweet legte Radtke am Dienstag nach. Kahrs' typische Ausdrucksweise parodierend schrieb er:
Ein traumschönes Moin an alle Kämpfer für die Wahrheit und Gerechtigkeit. Gemeinsam können wir viel bewegen. Das ist erst der Anfang.
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