von Sebastian Range
Seit zwei Wochen ist er in aller Munde: der Reproduktionsfaktor (R). Mit diesem wurden die Verlängerungen der Kontaktverbote und Ausgangssperren begründet. Das war eine Kehrtwende der Bundeskanzlerin. Zuvor hatte Angela Merkel zur Einschätzung der Entwicklung der Corona-Epidemie in Deutschland noch die Verdoppelung der Infektionszahlen geltend gemacht. Erst sprach sie von zehn, dann von vierzehn Tagen.
Dieser Wert war aber schon längst erreicht beziehungsweise deutlich übertroffen, als Merkel im Anschluss an das Gespräch mit den Regierungschefs der Länder am 15. April vor die Presse trat, um eine Antwort auf die mit Spannung erwartete Frage zu geben, ob die restriktiven Maßnahmen nun gelockert werden.
"Wir haben Modellbetrachtungen gemacht", erklärte die Kanzlerin und bezog sich dabei auf ein aktuelles Gutachten von vier Professoren der Helmholtz-Gemeinschaft.
Wir sind jetzt ungefähr bei einem Reproduktionsfaktor von 1,0, also: Einer steckt einen an. Man kann natürlich immer nur für eine Infektionskette sagen, ob einer einen ansteckt; insofern ist das ein Mittelwert, aber es ist ungefähr so, dass einer einen ansteckt.
Schon bei der Annahme, "dass jeder 1,1 Menschen ansteckt, wären wir im Oktober wieder an der Leistungsgrenze unseres Gesundheitssystems mit den angenommenen Intensivbetten angelangt", klärte die Kanzlerin auf.
Wenn wir von einem Wert von 1,2 ausgehen, also dass jeder 20 Prozent mehr Menschen ansteckt beziehungsweise von fünf Menschen einer zwei weitere Menschen ansteckt und vier einen weiteren Menschen anstecken, kämen wir schon im Juli an die Belastungsgrenze unseres Gesundheitssystems. Bei einem Wert von 1,3 – das hört sich nicht nach viel an; wir kommen ja von einem Wert von 3 bis 5 Ansteckungen – wären wir schon im Juni an der Belastungsgrenze unseres Gesundheitssystems", so die Kanzlerin.
R-Zahl als "magische Grundlage" der Entscheidungsfindung
Welch zentrale Rolle der Reproduktionsfaktor bei der Frage der Lockdown-Lockerungen spielte, verdeutlichte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow kurz darauf bei Markus Lanz:
Das war die Grundlage gestern in der Entscheidung in der Videokonferenz (zwischen den Landeschefs und der Bundesregierung, Anm. d. Red.). Wir haben uns beschäftigt mit R1, R2, R3, wir haben abgeschätzt, was das bedeutet für das Gesundheitssystem, für die Leistungsfähigkeit. Die Bundeskanzlerin hat immer wieder auf das gleiche hingewiesen, was Sie sagen.
Ramelow nahm damit Bezug auf die anwesende Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim, die ausführte, "sobald die [Reproduktionszahl] über 1 ist, also 1,05 oder 1,1, steigen die Zahlen (der neuen Infektionen, Anm. d. Red.)".
Der Ministerpräsident fuhr fort, der Reproduktionsfaktor "war sozusagen für uns eine magische Grundlage um zu sagen, das muss die Zielstellung sein, von allem, was wir jetzt machen."
In den letzten Tagen ist eine Debatte darüber entbrannt, ob es der am 23. März verhängten Ausgangssperre überhaupt bedurft hätte, da der Reproduktionsfaktor laut Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) zu diesem Zeitpunkt bereits auf 1 gesenkt werden konnte. Seitdem hat er sich mit geringen Abweichungen auf diesen Wert eingependelt, wie folgende Grafik des RKI zeigt.
Allerdings handelt es sich bei den Angaben des RKI um eine "retrospektive Auswertung", die am 15. April erfolgte – der Bundesregierung lagen diese Daten am 23. März also noch nicht vor.
Mit Nachkommastellen politische Maßnahmen begründen?
Dem von der Bundesregierung, Wissenschaftlern und Journalisten vermittelten Bild zufolge gehen kleinste Änderungen der Reproduktionszahl mit erheblichen Konsequenzen einher. Eine Steigerung um 0,1 führe bereits zur Überlastung des Gesundheitssystems mit katastrophalen Folgen. Der Berliner Virologe Christian Drosten hatte kürzlich im NDR-Podcast gewarnt: Wenn die Reproduktionszahl nach Lockerung der Maßnahmen wieder über 1 kommen sollte, könne die Epidemietätigkeit in nicht erwarteter Wucht erneut losgehen.
Sich auf diese Zahl bei der Entscheidungsfindung zu fixieren, ist aber aus verschiedenen Gründen problematisch. Das beginnt bei deren "Sensibilität". Das verdeutlichte RKI-Chef Lothar Wieler bei seiner Pressekonferenz am Dienstag.
Denn der Reproduktionsfaktor geht laut Wieler auf "Schätzungen und Berechnungen, die auf bestimmten Annahmen beruhen", zurück. Auch wenn die zugrundeliegenden Annahmen des RKI, die es in seinem "Epidemiologischen Bulletin" vom 23. April näher erläutert hat, schlüssig erscheinen, so unterliegt die R-Zahl demzufolge immer einer gewissen Ungenauigkeit – was es an sich schon fragwürdig erscheinen lässt, auf Nachkommastellen basierende Szenarien zu entwerfen, die dann Grundlage politischer Entscheidungsfindung sind.
Zudem machte Wieler klar:
Wir runden ja den R-Wert. Das heißt also nach mathematischen Regeln rundet man ja, wenn es unter 0,5 ist runter und über 0,5 hoch. Der tatsächliche R-Wert, den wir heute konkret errechnet haben, ist 0,96. Das ist gerundet auf 1,0.
Eine messerscharfe Erkenntnis ohne politische Konsequenzen
Doch das wirkliche Problem mit dem Reproduktionsfaktor erläuterte Wieler im Anschluss an eine Frage eines Reuters-Journalisten, ob angesichts der sinkenden Zahlen der Neu-Infizierten die Bedeutung des R-Faktors nicht abnehme.
Ist es dann nicht wichtiger hinzusehen, dass man dann eben diese Fälle nachvollziehen kann, feststellen kann, isolieren kann; ist das dann nicht der entscheidende Parameter, wenn wir jetzt nur, ich sag mal 100 Fälle haben, ist es denn dann so wichtig, ob der Faktor bei 1,2 oder bei 0,8 liegt?", fragt der Journalist.
"Sie haben das vollkommen erkannt", antwortet ihm Wieler und fuhr fort: "R ist eben ein Faktor. Dieser eine Faktor sagt etwas über die Dynamik aus, es ist ein wichtiger Faktor, darum berechnen wir ihn. Aber genau was Sie sagen, ist natürlich eine andere Zahl sehr, sehr wichtig. Das ist nämlich die Zahl der tatsächlichen Fälle pro Tag." Der RKI-Chef erläuterte das anhand eines Beispiels:
R kann ja zum Beispiel 1 sein, wenn wir 50.000 Fälle am Tag hätten – die höchsten Zahlen, die wir hatten, waren rund 6.000 pro Tag – und jeden Tag wieder 50.000, hätten wir über die Zeit auch ein R von 1.
Es sei "ganz wichtig zu verstehen", dass der Reproduktionsfaktor nur gemeinsam mit anderen Zahlen betrachtet werden könne, insbesondere der absoluten Zahl der Fälle pro Tag.
Und den Grund haben Sie ebenfalls genau richtig erkannt. Der Grund ist nämlich der, wenn wir unter einer bestimmten Zahl sind, es dann den Gesundheitsämtern gelingt, alle Infektionsketten nachzuverfolgen und dann Ausbrüche sehr schnell zu beenden. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt.
Und darum dürfe man die R-Zahl nicht für sich allein betrachten und aus dem Kontext nehmen, so Wieler. Es sei "nicht hilfreich", wenn sich in der Öffentlichkeit immer nur auf einen Faktor bezogen werde. "Wir müssen mehrere Faktoren im Blick haben, und das haben wir auch. Gut, dass Sie das messerscharf erkannt haben!", schloss Wieler seine Antwort ab.
Doch diese Erkenntnis hat sich offenbar noch nicht bis in die Politik oder auch zu einigen Wissenschaftler und Journalisten herumgesprochen, laut denen kleinste Änderungen der R-Zahl kolossale Folgen haben. Merkel zufolge bräche bei einem Wert von 1,2 im Juli unser Gesundheitssystem zusammen. Laut Wieler ist es aber angesichts sinkender Fallzahlen nebensächlich, ob die Zahl bei 1,2 oder 0,8 liegt. Und seine Argumentation ist schlüssig: Die Belastungsgrenze des Gesundheitswesens hängt von der absoluten Zahl erkrankter Menschen ab, nicht vom R-Faktor.
Doch der Reproduktionszahl wohnt eine Magie inne, die sich die Politik nur zu gerne nutzbar macht: Mit ihr lässt sich offenbar alles und nichts begründen.
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