Der 24. April ist der "Tag zum Schutz der Versuchstiere" – oder auch "Tag zur Abschaffung der Tierversuche". Doch auch aus anderen Gründen ist das Thema hochaktuell. Für die Entwicklung eines Impfstoffs gegen COVID-19, dem die Menschen jetzt weltweit entgegenfiebern, sehen einige Wissenschaftler Tierversuche als unverzichtbar an.
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Dabei ist es erst wenige Monate her, als Aufnahmen von in Metallvorrichtungen eingeklemmten Affen, an den Beinen aufgehängten Hunden, mit Spritzen in den Mund malträtierten Katzen und anderer Horrorszenarien aus einem blutverschmierten, aber traditionsreichen Labor, das systematisch seine Ergebnisse fälschte, die Öffentlichkeit empörten.
Nur durch die heimlich gefilmten Aufnahmen des Vereins SOKO Tierschutz wurden die Tierquälereien und der groß angelegte Betrug von Testergebnissen in den einzelnen Tierversuchslaboren publik, die teils aufgrund der Gesundheitsgefahr durch die Betrügereien nicht fortfahren konnten wie bisher. Einer öffentlichen Mobilisierung steht jetzt aber die Frage nach dem großen Ganzen entgegen – wer möchte schon der Entwicklung eines Impfstoff gegen COVID-19, von dem Tausende Menschenleben und letztendlich auch die Rückkehr zum existenzsichernden Arbeitsleben abhängen, im Weg stehen?
Der Medizin ist es gelungen, erfolgreiche Impfungen zum Beispiel gegen Kinderlähmung, Mumps oder eben die Grippe zu entwickeln. Bei COVID-19 ist aber noch erheblicher medizinischer und wissenschaftlicher Fortschritt nötig", erklärt der Sprecher der Initiative "Tierversuche verstehen", der Göttinger Neurowissenschaftler und Biologe Stefan Treue.
Verantwortungsbewusste Tierversuche seien unverzichtbar. Doch eben am verantwortungsbewussten Umgang mit Tieren – und im Falle gefälschter Ergebnisse auch mit Menschen – hapert es, wie nicht nur immer wieder Enthüllungen über die Zustände in Tierversuchslaboren zeigen. Das "große Maß an legalem Tierleid" ergebe sich aus der Gesetzeslage, da Tierversuche weitgehend vom Tierschutzgesetz ausgeschlossen sind. "Man darf da Sachen machen mit Tieren, die einen normalerweise ins Gefängnis bringen würden," erklärte der Sprecher von SOKO Tierschutz, Friedrich Mülln.
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Dass der Umgang mit Tierleben in der Forschung nicht wirklich respektvoll ist, zeigen aktuelle Zahlen zu Millionen von Tieren, die eigens für Versuche gezüchtet und dann ungenutzt getötet wurden. Das Bundeslandwirtschaftsministerium schätzt, dass die Zahl im Jahr 2017 bei 3,9 Millionen lag. Das berichtete in der vergangenen Woche die Neue Osnabrücker Zeitung und beruft sich auf eine Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen. Damit müssen bisherige Angaben signifikant nach oben korrigiert werden. In der gesamten Europäischen Union sind es demnach 12,6 Millionen Tiere. Ein Grund für die Tötung könne sein, dass die Tiere im Zuge der Zucht nicht die Eigenschaften hätten, die für den jeweiligen Versuch benötigt werden, hieß es. Hauptsächlich seien dies Mäuse und Zebrafische.
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Bei der Entwicklung eines Mittels gegen COVID-19 kämen nach Angaben von Stefan Treue in erster Linie Mäuse zum Einsatz, aber nicht nur:
Aber auch Studien an anderen Tierarten wie zum Beispiel Affen sind dafür unumgänglich," so der Sprecher der Initiative "Tierversuche verstehen", der auch das Deutsche Primatenzentrum in Göttingen leitet.
Auch der durch die Corona-Krise über Berlin hinaus bekannt gewordene Virologe Christian Drosten hält Versuche mit Makaken wie Rhesusaffen "in sehr, sehr limitierter Art und Weise" für angebracht. Die EU-Tierversuchsrichtlinie, die für Deutschland gilt, verbietet Versuche an Menschenaffen, also Schimpansen, Bonobos, Orang-Utans und Gorillas – mit Ausnahme außergewöhnlicher Umstände. Doch auch Makaken sind erwiesenermaßen intelligent. Nicht nur sind sie mit Spiegelneuronen ausgestattet, die laut Forschern Rückschlüsse auf die Empathiefähigkeit der Tiere zulassen - eine Eigenschaft, die wiederum in der Diskussion um Tierrechte als ausschlaggebend dafür gilt, die Wesen zu schützen, wenn auch einige Stimmen meine, dass dafür allein die Leidensfähigkeit und das Schmerzempfinden der Lebewesen ausreiche. Studien zeigten darüber hinaus, dass diese Affen den logischen Prozess der transitiven Schlussfolgerung verstehen können; wenn ein Makak demnach lernt, dass A vor B kommt und B vor C, kann er daraus ableiten, dass A vor C kommen muss.
Die Ärzte gegen Tierversuche, ein Zusammenschluss aus Human- und Tiermedizinern sowie Biochemikern, hingegen meint, dass Medikamententests an Tieren grundsätzlich für die Humanmedizin nicht alternativlos und oft nicht einmal geeignet sind, weil die Organismen sich zu sehr unterscheiden.
Eine schnelle und zuverlässige Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen mit Tierversuchen ist nachweislich nicht möglich", so Sprecherin Gaby Neumann. "Die aktuelle Corona-Krise zeigt mehr als deutlich, welch großer Fehler es in der Vergangenheit war, tierversuchsfreie, humanbasierte Forschungsmethoden wie menschliche 3D-Lungenmodelle und Multi-Organ-Chips nicht ausreichend zu fördern."
Auch SOKO Tierschutz fordert ein Ende aller Tierversuche und sieht die Corona-Krise nicht als Grund, diese Haltung an sich zu ändern. Sprecher Friedrich Mülln betont ebenfalls, in dieser Situation räche es sich, dass es versäumt wurde, Alternativmethoden weiterzuentwickeln. Dass die Pandemie eine Notsituation darstellt, erkennt auch er an. Aufgrund des bisherigen Kurses in der Forschung sei es kaum möglich, plötzlich umzusteigen.
Wenn man bei 300 Kilometern pro Stunde eine Vollbremsung macht, wird das nicht gut ausgehen.
Der New Scientist zeigte gar in einer Titelstory auf, dass das sogenannte Tiermodell unpassend für menschliche Krankheiten ist, da es für die Humanmedizin zumeist keine reproduzierbaren Ergebnisse liefert. Zudem hat die amerikanische Arzneimittelzulassungsstelle FDA errechnet, dass 92 Prozent aller Medikamente, die in Tierversuchen unbedenklich schienen, bei Menschen wirkungslos oder gar gefährlich sind und daher gar nicht erst zugelassen werden.
Das russische Zentrum für den Schutz von Tierrechten, Vita, erwähnt eine Reihe moderner Methoden (auf Russisch) als Alternative zu Tierversuchen und verweist außerdem auf ein Buch des Schweizer Medizinhistorikers Hans Ruesch, "1000 doctors (and many more) against vivisection" (zu Deutsch etwa: "1.000 Ärzte (und viele mehr) gegen Tierversuche"), mit dem Hinweis, Tierversuche seien demnach vor allem eine Möglichkeit für Arzneimittelentwickler, sich der Verantwortung für negative Nebenwirkungen ihrer Medikamente zu entziehen. In dem Buch kommen zahlreiche Mediziner und Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern zu Wort, darunter Professor Pietro Croce, selbst Autor eines Buches mit dem Titel "Vivisektion oder Wissenschaft?" Er meint:
Wenn sich ein Mann der Medizin gegen Tierversuche ausspricht, bedeutet das nicht, dass er das Leiden der Tiere beenden will, sondern dass er die menschliche Krankheit besiegen will.
Auf der Webseite mit dem Namen des Schweizer Medizinhistorikers heißt es:
Vivisektion – jedes invasive Experiment an lebenden Tieren und Menschen – ist das Trojanische Pferd, mit dem unwirksame und gefährliche Medikamente vermarktet und toxische Wirkstoffe in die Umwelt, in die Nahrung und in unser Leben eingeführt werden, mit offiziellen Bescheinigungen über Wirksamkeit und Sicherheit, die in Wirklichkeit keinen wissenschaftlichen Wert haben.
Während in Russland und anderen postsowjetischen Staaten bereits an mehreren Universitäten unter anderem im veterinärmedizinischen Bereich erfolgreich auf die Nutzung lebendiger Tiere verzichtet wird, hält man in Deutschland zumeist daran fest. Der Verein "Ärzte gegen Tierversuche", der mit einigen dieser Projekte in Russland unter anderem kooperiert, begründet dies auch mit der abweichenden Grundhaltung der Wissenschaftler im Osten:
Die Hochschullehrer sind oft nicht so verbohrt wie bei uns, sondern dem Neuen aufgeschlossen gegenüber.
Auch andere moderne Methoden, wie die Schaffung von Organen auf Chips, kommen in der russischen Forschung zum Einsatz. Im Nowosibirsker Laboratorium werden zerebrale 3D-Organoide gezüchtet, quasi "Mini-Gehirne".
Sie leben etwa drei Monate, werden durchschnittlich fünf Millimeter groß und entwickeln sich ähnlich wie das Gehirn eines menschlichen Embryos", erklärt Tatiana Schneider, Nachwuchswissenschaftlerin am Institut für Zytologie und Genetik der Sibirischen Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften.
Spezialisten des Krasnojarsker Forschungszentrums haben biolumineszente Proteine zur Prüfung von Medikamenten entwickelt, die es erlauben, Tierversuche zu reduzieren, und bereits vom internationalen Pharmakonzernen angewendet werden. Dennoch fließen in Deutschland öffentliche Gelder weiter in die teure Forschung an Tieren. Auf die tierfreie Forschung entfallen laut der Kampagne "Ausstieg aus dem Tierversuch" hierzulande lediglich ein Prozent von Fördergeldern, wohingegen auf die Forschung mit Tieren 99 Prozent der staatlichen Gelder entfallen.
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