von Wladislaw Sankin
Seit über 40 Jahren prägt Wladimir Spiwakow bereits die europäische Musikgeschichte mit: Er studierte am Leningrader Konservatorium bei den Professoren L. M. Sigal und W. I. Scher sowie am Moskauer Konservatorium bei Professor Ju. I. Jankelewitsch. Er errang bereits in den 1960er Jahren Preise bei berühmten Violinwettbewerben in Paris, Genua, Montreal und Moskau. Als Musiker von ausgeprägter und charakteristischer Individualität genoss er nicht nur als Violinvirtuose, sondern auch bereits als Dirigent verschiedener Orchester in der Sowjetunion wie auch im Ausland großes Ansehen. Er ist künstlerischer Leiter des von ihm 1979 gegründeten Staatlichen Kammerorchesters "Moskauer Virtuosen".
Musikliebhaber aus DDR-Zeiten werden das damals junge Ausnahme-Talent Wladimir Spiwakow und sein Kammerorchester "Moskauer Virtuosen" noch gut in Erinnerung haben. Er war als Solist damals häufiger zu Gast in dem Land. Auch sind mehrere Einspielungen, u.a. von Mozart und Tschaikowski, für Schallplatten in Koproduktion der Plattenlabels Melodija und Eterna in der Sowjetunion und der DDR entstanden. Musikliebhaber aus der BRD haben sicherlich noch seine Schallplatten in Erinnerung, die in Zusammenarbeit zwischen EMI und dem sowjetischen Plattenlabel Melodija entstanden. Schon damals gab es für Violinvirtuosen und Dirigenten weder musikalisch noch politisch Grenzen weltweit.
Diesem Credo ist der heute 75-Jährige noch immer treu. Unermüdlich tourt er mit seinem Ensemble durch Russland – bis nach Tschuchotka und durch alle Staaten der früheren Sowjetrepubliken – und natürlich durch Europa, Nord- und Südamerika und Südostasien. Im Musik-Programm weiß er stets musikalische Epochen und nationale Schulen zu verbinden, verbindet bekannte Komponisten mit weniger bekannten, vom Barock bis zur Avantgarde, die Vorklassik mit der Klassik. Sein Talent für Sprachen – er beherrscht fünf Fremdsprachen – hilft ihm dabei: Er kann die nationalen Musikstile und die Intentionen der Komponisten durch ihre Muttersprache "entziffern", wie er gern in seinen Interviews betont.
Da er auch die deutsche Sprache beherrscht, ermöglicht ihm das, bei seinen Auftritten mit dem Publikum bisweilen in Dialog zu treten. So auch diesmal, als er in der zweiten Oktoberhälfte in Hamburg, Berlin, Wiesbaden, München und Düsseldorf mit seinem Kammerorchester zu Gast war. So gelingt in jedem Konzert eine gelöste Stimmung, wenn er dem Auditorium schon fast am Ende ein musikalisches "Dessert" serviert. Oft sind es mehrere kleinere Fragmente von den zuvor gespielten Komponisten – eine kleine "Auslese" für jeden Musik-Gourmet.
Die aktuelle Gastspiel-Tournee war Teil des internationalen Kulturprojekts "Russische Saisons" und zeigte exemplarisch, wie Spiwakow sein musikalisches Angebot zusammenstellt. Im ersten Teil stellte sein Orchester zwei Frühklassiker aus dem 18. Jahrhundert vor: Luigi Boccherini mit seiner Sinfonie d-moll (op. 12/4 G 506) sowie Wolfgang Amadeus Mozart mit dem Klavierkonzert in A-Dur (KV 414). Boccherini, dessen Ruhm zu Lebzeiten wohl sogar jenen von Mozart überstrahlte, ist heute nur noch wenig bekannt. Das ist aber für Spiwakow kein Grund, eine von dessen bekanntesten Sinfonien nicht mit auf Tour zu nehmen.
Im zweiten Teil spielte sein Orchester Präludium und Scherzo op. 11 von Dmitri Schostakowitsch, die "Kleine Daneliade" des georgischen Komponisten Gija Kantscheli sowie den vierteiligen Zyklus für Violine und Orchester "Die vier Jahreszeiten von Buenos Aires" von Astor Piazzolla (in der Version von Alexej Strelnikow) – allesamt Komponisten des 20. Jahrhunderts. Eine solche Zusammenstellung – eine Mixtur bis zur Beliebigkeit, wie manche sagen – macht sein Programm aus.
Als Solisten sind auf dieser Europa-Tournee mit dabei: Der verdiente Künstler der russischen Teilrepublik Kabardino-Balkariens Georgi Zaj, der Ehrenkünstler der Stadt Moskau Denis Schulgin, die Preisträger internationaler Wettbewerbe Lew Iomdin und Jewgeni Stembolski (Violine) sowie die Stipendiatin der Internationalen Wladimir-Spiwakow-Wohltätigkeitsstiftung und Siegerin des Moskauers Internationalen Wladimir-Krainew-Pianistenwettbewerbs, die fünfzehnjährige Pianistin Shio Okui.
Diese Liste zeigt: Künstler, die mit Spiwakow auftreten, sind oft seine eigenen Zöglinge. Seit 16 Jahren ist er auch Chefdirigent des russischen Nationalen Philharmonie-Orchesters und Präsident des Russischen Hauses der Musik. Vor 25 Jahren hat er seine Stiftung für die musikalische Förderung von Kindern gegründet. Inzwischen sind es bereits 50.000 Kinder aus aller Welt, die an solchen Programmen seiner Stiftung teilgenommen haben. Diese Musiker seien für ihn der wichtigste Nachlass seines Lebens.
Aber zurück zu seinem eigenen Repertoire. Auch dies macht Spiwakow so einzigartig. Einerseits "propagiert" er die Werke der sowjetischen Komponistenschule – von Alfred Schnittke, Edisson Denissow, Sofia Gubaidulina, Arvo Pärt, Rodion Schtschedrin, Gija Kantscheli, andererseits setzt er auf klassische Ikonen wie Mozart und Bach. Bach verkörpert für Spiwakow den Geist an sich – "ein Geschenk an die ganze Menschheit". In Moskauer Kulturstätten hat er daher vor wenigen Jahren ein Konzertprogramm konzipiert: "Die Stunde Bachs – Mensch, liebe die Welt". Spiwakow wählt behutsam seine Worte, wenn er von diesem deutschen Komponisten spricht:
In seiner Musik gibt es etwas Ewiges, eine erstaunliche Architektonik, Abstraktion, die für jeden Menschen – egal welcher Landeszugehörigkeit oder Nationalität – aktuell ist. Wenn ich mich psychisch nicht wohl fühle, spiele ich Bach selbst, und nach sieben bis zehn Minuten spüre ich wieder Kraft", sagte Spiwakow während eines Presseauftrittes.
Und noch eine Gabe hat Wladimir Spiwakow. Zusammen mit seinen "Moskauer Virtuosen" vermag er Menschen in bisweilen politisch zerstrittenen Ländern durch Musik und Kultur wieder zusammenzubringen. "In der Musik gibt es keine Aggression", sagt er. Das war zu Zeiten des Kalten Krieges so, und das gilt auch heute, in postsowjetischen Zeiten, ebenso.
Für seine Verdienste erhielt er im Jahre 2001 auch in der Ukraine den Titel "Volkskünstler" verliehen. Und dennoch: Sein für den 23. Februar 2014 – also für den Tag nach dem nationalistischen Putsch mit hundert Toten – in Kiew angekündigtes Konzert der "Moskauer Virtuosen" wurde damals kurzerhand abgesagt. Das Platzen dieses Auftrittes steht damit auch symbolisch für den immer weiter eskalierten Abbruch der Beziehungen der einstigen Sowjetrepublik Ukraine zur einstigen Sowjetrepublik Russland, welcher nach dem gewaltsamen Machtwechsel in Kiew begonnen wurde. Später war Spiwakow Mitunterzeichner eines offenen Briefes von russischen Kulturschaffenden, mit dem sie die Wiedereingliederung der Krim in die Russische Föderation unterstützten. Trotz dieses "Verrats" – aus der Sicht der heutigen ukrainischen Regierung – blieb ihm zumindest sein Titel als Volkskünstler der Ukraine erhalten. Der 75-jährige Künstler hofft, dass auch mit seinem Publikum in der Ukraine bald ein Wiedersehen wieder möglich sein wird.
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