von Daniel Lange
Samstagabend vor ein paar Wochen. Zum letzten Mal in dieser Saison wird im Garten mit ein paar Freunden gegrillt. Als es später wird, werden ein paar Decken rausgeholt und ein Lagerfeuer angezündet. So wie jedes Jahr, wenn der Herbst kommt.
Mit dem letzten Glas Wein in der Hand geht ein gemeinsamer Abend seinem Ende entgegen.
Was dann begann, war rückblickend nichts anderes als eine klassische Märchenstunde. Genauso wie wir im Garten saßen Menschen bereits vor tausenden Jahren in Gruppen zusammen am Feuer und hörten einem Geschichtenerzähler zu. "Letztens rief mich ein Freund an", begann mein Nachbar, "der war in der Einkaufspassage in Neukölln, und dort war alles voller Polizei".
Als der Freund nachfragte, was passiert sei, habe man ihm gesagt, dass jemand versucht habe, ein kleines Mädchen zu entführen, das gerade mit seinen Eltern beim Einkaufen gewesen wäre. Die Entführung konnte gerade noch durch das Sicherheitspersonal verhindert werden. Man hätte das Mädchen weinend in einer Umkleidekabine aufgefunden. Die Täter, die fliehen konnten, hätten ihm die Haare abrasiert, wohl um die Identifizierung zu erschweren.
Es sollen drei Männer, wahrscheinlich Osteuropäer, gewesen sein, die bei ihrer Entdeckung in einem weißen Transporter das Weite suchten. Die Polizei hätte eine Fahndung eingeleitet. Ein absolut erschreckender Vorfall. Alle in der Runde am Feuer waren entsetzt und als Eltern natürlich besonders betroffen. Nichts Schlimmeres kann man sich vorstellen als das Verschwinden des eigenen Kindes in einem unachtsamen Moment.
Da stimmten alle zu, und diejenigen Eltern von Kleinkindern erklärten, dass sie ihr Kind ohnehin nie und nach einem solchen Vorfall schon gar nicht mehr beim Einkaufen aus den Augen lassen würden. Wie grausam auch, dass dem kleinen Mädchen sogar noch die Haare abrasiert wurden. Wir spekulierten nach einer Weile, was wohl hinter alledem stecken könnte, und befanden kollektiv, dass die ganze Sache schon ziemlich furchterregend sei.
An der ganzen Erzählung über den Entführungsversuch, die unachtsamen Eltern und das kleine Mädchen mit dem geschorenen Kopf stimmte nichts. Nach einer ergebnislosen Recherche im Internet, unter Einbeziehung aller möglichen Schlagworte, und einer negativen Antwort auf eine Anfrage bei der Pressestelle der Berliner Polizei zu dem angeblichen Entführungsversuch war klar, dass mit dem Freund meines Nachbarn, gelinde ausgedrückt, wohl die Fantasie durchgegangen sein muss. Wie könnte man sonst als erwachsener Mensch auf eine solch skurrile Geschichte kommen?
Die Antwort ist ganz einfach: Was alle Beteiligten sich an dem Abend anhörten, ist ein in der heutigen Zeit entstandenes, modernes Märchen. Eines, das mittlerweile so bekannt ist, dass es wissenschaftlich als "Ikea-Legende" bezeichnet wird. Im Jahr 2000 soll die Geschichte erstmals aufgekommen sein.
Erzählt wurde, dass man versuchte, ein kleines Mädchen zu kidnappen, das mit seinen Eltern im Möbelhaus unterwegs war, die es im Ausstellungsflächen-Labyrinth aus den Augen verloren. Glücklicherweise konnte das Mädchen vom Sicherheitsdienst entdeckt und gerettet werden, als drei Männer gerade dessen Haare in einer Besuchertoilette abrasieren wollten.
Diese unwahre Geschichte hatte so deutliche Auswirkungen auf das Image der Möbelhauskette, die sehr bemüht ist, als familienfreundlich wahrgenommen zu werden, dass der Konzern Strafanzeige gegen unbekannt erstattete. Der Ursprung der Geschichte konnte jedoch nie ermittelt werden. Klar wurde dabei durch die Ermittlungen jedoch, dass es sich nicht um eine Hetzkampagne der Konkurrenz oder Unternehmensgegner handelte, die Ikea schaden wollten und eine solche Geschichte in Umlauf brachten.
Schon kurze Zeit später kursierte die Geschichte leicht verändert und erzählte nun von einem Mädchen, glatzköpfig aufgefunden in der Umkleidekabine eines großen Bekleidungshändlers, später in einem Baumarkt. Für Märchen und ihre Entstehung ist typisch, dass sie mit der Zeit etwas modifiziert werden.
Falsch wäre es zu glauben, dass die Menschen in der Neuzeit aufgehört hätten, Märchen zu entwickeln, zu erzählen und weiterzugeben. Weltbekannt sind die "Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm, eine Sammlung von erzählten Volksmärchen und literarischen Texten, die beide Brüder zusammentrugen und in dem Stil niederschrieben, der bis heute den der Märchen prägt.
Ursprünglich war die Grimm'sche Märchensammlung gar nicht für Kinder gedacht, sondern sollte ausschließlich der Forschung und der Lehre dienen. Die Brüder selbst waren, anders als der bekannte dänische Schriftsteller Hans Christian Andersen, der zur gleichen Zeit lebte, keine Märchenautoren, keine Geschichtenerfinder.
Wilhelm Grimm schrieb die ihm erzählten und zugetragenen Geschichten an einigen Stellen um, fügte aus dramaturgischen Gründen und zur Vereinfachung einzelne Charaktere hinzu oder veränderte sie. Erdacht haben die beiden Volksgutwissenschaftler und Germanisten keine der Geschichten, die unter ihrem Namen veröffentlicht wurden. In der Art jedoch, wie sie die Geschichten aufschrieben, sollten sie Eltern als "Erziehungsbuch" dienen – so schreiben es die Brüder Grimm im Vorwort der Märchensammlung.
Vor 200 Jahren noch mögen die Geschichten so ausgelegt gewesen sein, dass sie in die damalige Gesellschaft und insbesondere zur moralischen Sicht dieser Zeit passten.
Heute fällt es wohl zunehmend schwer, sich mit Begriffen wie "die Lieben", "die Braven" oder der autoritären Rolle der Eltern in den Märchen zu identifizieren. Darstellungen von gehorsamen Kindern, die geliebt werden, und bösen Kindern, die drakonisch bestraft werden, Mädchen, die geheiratet werden wollen, und Stiefmütter, die abgrundtief schlecht und sadistisch sind, wirken heute eher fremd und verstörend.
Obwohl es mittlerweile viele Pädagogen gibt, die in Märchen nur Negatives sehen und meinen, dass bei Kindern damit Ängste aufgebaut und sie zur Passivität aufgefordert werden, kann man den erzieherischen Effekt selbiger nicht ganz ausschließen. Heute ist es nicht der dunkle Wald, in dem die Hexe oder der große böse Wolf lauern und in dem man damals schnell für immer verloren ging und Schreckliches erlebte, wenn man die festen Wege verließ oder zu tief hineinging.
Dieser Tage ist es das unübersichtliche Großkaufhaus oder die riesige Einkaufspassage, zwischen deren Menschenmassen sich auch Leute mit schlechten Absichten versteckt halten. Wie im Falle des Wolfs, der wartete, dass die Mutter der sieben Geißlein das Haus verließ, damit er die Kleinen in Ruhe fressen konnte und dazu alles unternahm, um die Jungen zu täuschen, so lauern heute "Kinderfänger" in den schwer einsehbaren Kaufhäusern und Shoppingcentern auf diejenigen, die sich zu weit entfernen.
So, wie damals der weitestgehend unberührte Wald in der Lebenswirklichkeit der Menschen eine große Rolle spielte, sind es heute die großen Warenhäuser der Einkaufspassagen als wesentlicher Teil einer modernen Infrastruktur. "Der Jäger", der Schneewittchen das Leben rettete und Rotkäppchen und deren Großmutter in letzter Sekunde aus dem Bauch des Wolfes schnitt, ist heute der Security-Mann, der das Mädchen auf der Besuchertoilette oder in der Umkleidekabine auffindet und rettet.
Die Täter, "drei Räuber", wohl Rotationseuropäer, unterwegs in einem weißen Auto.
Nicht sesshafte Menschen haben in der modernen westlichen Welt schon seit jeher einen schweren Stand. Sie wirken nicht kontrollier- und greifbar. Ähnlich wie im Falle von Schaustellern, Gauklern oder Zirkusleuten ist vielen Menschen deren Lebensart fremd – und Fremdes wirkt auf viele schnell beängstigend.
Die Märchenbildung in der heutigen Zeit, bezogen auf die "Ikea-Legende", trägt dazu bei, dass die Menschen in Mitteleuropa in den vergangenen 30 Jahren immer öfter auf sogenannte Rotationseuropäer, meistens Angehörige der ethnischen Minderheit der Sinti und Roma, getroffen sind, deren Image allgemein nicht sonderlich positiv ist. Gerade deren augenscheinlicher Umgang mit den eigenen Kindern, der öffentlich über die Medien transportiert wird, löst immer wieder Diskussionen aus und vermittelt ein oberflächliches Bild der Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen, schlecht behandeln und sogar zum Betteln anleiten.
Es liegt fast auf der Hand, dass sich bestens "drei Rotationseuropäer" als Täter in der modernen Zeit anbieten. Paradox ist dabei doch, dass es bis in die 1930er-Jahre sogenannte "Mundwerker" waren, die meisten Angehörige der Sinti, die man damals als "fahrendes Volk" bezeichnete und die durch das Land zogen, den Menschen Märchen erzählten und diese Erzählkultur in erster Linie aufrecht hielten.
"Der weiße Wagen" der Entführer ist ebenfalls ein Indiz dafür, wie sehr in der neuen Märchenentstehung Elemente verwendet werden, die eine Rolle in der aktuellen Gegenwart spielen. 29 Prozent der Autos, die in den vergangenen zehn Jahren auf den Markt gekommen sind, sind weiß.
Bei Transportfahrzeugen, wie dem Kastenwagen, mit dem die Täter in dem Märchen fliehen konnten, sind sogar rund 75 Prozent weiß lackiert. Weiße Autos sind in der Lebensrealität so gegenwärtig wie Shoppingcenter, Rotationseuropäer und Kaufhaus-Sicherheitspersonal. Die Schilderung, dem Mädchen seien die Haare abrasiert worden, steht für die nahezu in allen Märchen vorkommende Bestrafung von Ungehorsamen und Widerspenstigen. Mit einem Schrecken nämlich kommt in einem Märchen, ob uralt oder neu erdacht, meist niemand davon.
Die Stiefmutter will Schneewittchens Eingeweide essen, Hänsels Schwester Gretel verbrennt fast im Backofen der Hexe im Knusperhäuschen, und im Märchen "Blaubart" wird mehr als deutlich, dass der feine Herr, der seine junge Frau dafür töten will, dass sie seinen Anweisungen nicht folgte und ungehorsam war, eigentlich ein Massenmörder ist. In all diesen Fällen handelt es sich um sogenannte Warnmärchen, die bei Kindern, aber auch bei Erwachsenen ein bestimmtes Verhalten und insbesondere Ängste auslösen sollen.
Obwohl sie pädagogisch gesehen nicht mehr zeitgemäß sind und heute zum Beispiel Neugierde bei Kindern eher gefördert werden soll, als sie mit dem Tode oder der Amputation von Gliedmaßen zu bestrafen, existieren sie weiter und entwickeln sich fort. Für die Verbreitung von Märchen braucht es heute keine Geschichten sammelnden Brüder Grimm, keine Barden und Mundwerker mehr. Über die Massenmedien können Lügen, Geschichten und eben auch moderne Märchen schnell verbreitet werden.
Wie sehr sie dazu geeignet sind, bestimmte Menschen zu Schuldigen zu machen, alte Klischees zu bedienen und vor allem Ängste zu schüren, zeigt die "Ikea- Legende".
Ein modernes Märchen, das insbesondere die Roma als Kindesentführer abstempelt und dabei nur aufzeigen soll, dass Eltern auf ihre Kinder achten und Kinder gehorsam sein sollen. "Der Kinderraub" ist ein sehr altes antiziganisches Motiv. Auf Kupferstichen aus dem 17. Jahrhundert sind hellhäutige Kinder in dunkelhäutigen Familien zu sehen.
Damit wollte man damals schon die Botschaft an die Bevölkerung senden: "Vorsicht, die Zigeuner stehlen eure Kinder". Doch auch jetzt in der Neuzeit, die Roma mit Kindesentführung in Verbindung zu bringen, ist nicht nur eine Lüge, sondern erneut eine große Ungerechtigkeit gegenüber dieser Gruppe. Die osteuropäischen Roma selbst mussten in den vergangenen 50 Jahren umfangreich die Erfahrung machen, dass ihre Kinder von staatlicher Seite "entführt" und Adoptivfamilien oder Kinderheimen zugewiesen wurden.
Daneben sind es auch heute noch die Roma, die am stärksten von Kinderraub durch Kriminelle betroffen sind. Hunderttausende von ihnen leben in ihren Heimatländern in Armut, oft auf sich selbst gestellt, auf der Straße und in schwierigen sozialen Situationen. Kriminelle haben hier ein wesentlich leichteres Spiel, als in einem Land wie Deutschland nach Opfern zu suchen und dabei wohl ein enormes Risiko einzugehen.
Schätzungen gehen davon aus, dass jährlich weltweit 1,8 Millionen Kinder Opfer von Kinderhandel werden, doch genaue Zahlen gibt es nicht. Der Handel mit Kindern ist ein Milliardengeschäft, gleich hinter dem Waffen- und Drogenhandel auf der Welt.
Besonders Südostasien ist betroffen, gefolgt von Südamerika und Westafrika.
In Europa gilt besonders der kleine Staat Moldawien als vom Kinderraub besonders betroffen.
Auch ist Ermittlern klar, dass der grenzübergreifende Kinderhandel immer nur in eine Richtung geht: Kinder aus armen Ländern werden in wesentlich reichere gebracht – nie umgekehrt. Eine besondere Rolle im Kinderhandel in der EU scheint in dieser Zeit Italien einzunehmen. In den letzten zwei Jahren sind laut Europol mehr als 10.000 Kinder, die als sogenannte Bootsflüchtlinge nach Italien kamen und registriert wurden, spurlos verschwunden. Zwar ist davon auszugehen, dass sich viele Minderjährige weiter auf den Weg in Richtung Mitteleuropa gemacht haben, doch ein großer Teil, so vermutet es die Hilfsorganisation "Save the Children", wird in die Hände von Kriminellen gefallen sein.
Zudem erschüttert zur Zeit ein Ermittlungsverfahren gegen einen aufgeflogenen Kinderhändlerring in der italienischen Stadt Reggio Emilia das Land.
Eine Bande bestehend aus Psychotherapeuten, Mitarbeitern der Sozial- und Jugendämter und sogar des Kinderschutzbundes Bibbiano sollen über Jahre gezielt aus sozial schwachen Familien Kinder unter erdachten Gründen entzogen und verkauft haben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt aktuell in 70 Fällen.
Es ist eine bemerkenswerte Entwicklung, dass in einer so modernen und vernetzten Welt überhaupt die Möglichkeit besteht, gerade das viel angesprochene Thema "Kinderhandel" (meist in Verbindung mit Organhandel oder Kinderprostitution) den Roma als Tätern zuzuschreiben und dabei einfach auszulassen oder vielleicht auch gar nicht wissen zu wollen, wer wirklich hinter solchen Verbrechen steht.
So wie die Märchen vom verwunschenen Prinzen, der langhaarigen Rapunzel und Frau Holle, das als das älteste Märchen der Welt gilt und in dem die Figur "Frau Holle" sehr wahrscheinlich auf eine große Muttergöttin der Jungsteinzeit zurückzuführen ist, wird sich auch die "Ikea-Legende" halten und als eines der neuesten Warnmärchen in die Geschichte der westlichen Welt eingehen.