Das Prinzip der Gewaltenteilung, nach dem heutige Demokratien funktionieren sollen, sieht eine klare Trennung der gesetzgebenden, der ausführenden und der gerichtlichen Aspekte der Macht vor – drei Gewalten. Längst hat sich im Sprachgebrauch der Ausdruck "vierte Gewalt" für die klassischen Medien etabliert, der dem unbestreitbaren Einfluss der Medien auf den öffentlichen Diskurs und somit auf die demokratisch gefällten Entscheidungen Rechnung trägt.
Soziologen sprechen ferner pessimistisch vom Lobbyismus als der "fünften Gewalt", die die ursprüngliche Gewaltenteilung zugunsten der Lobby konterkariert.
Auch der Ausdruck "sechste Gewalt" für den öffentlichen Diskurs und Informationsaustausch im Internet wird diskutiert. Weil sich einige aber für diese "sechste Gewalt", den Diskurs im Internet, ebenso strikte Regeln und moderierende Instanzen wünschen, wie sie im Falle der "vierten Gewalt" der klassischen Medien wirken, war es zu erwarten, dass Konzepte zu einer weiteren Institutionalisierung der Diskussionsmoderation im Internet auf den Plan kommen.
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Nun hat also Facebook mit seinem sogenannten unabhängigen Obersten Gericht zur Klärung von Moderationsfällen ein solches Konzept vorgelegt. Man beansprucht für sich, eine Instanz einer, wenn man so will, "siebten Gewalt" zu sein – wenn nicht dem Wortlaut, so zumindest dem Sinn nach.
Doch wäre diese Instanz der "Gewaltenteilung" im Netz tatsächlich eines solchen Namens wert – oder haben wir es hier lediglich mit einem Ausdruck der Überheblichkeit eines Monopolisten in Reinkultur zu tun?
Facebook spricht in einem "white paper" (dt.: Weißbuch) von vorläufigen Plänen zu einem sogenannten Aufsichtsrat, der mit der Überprüfung von inhaltlichen Streitigkeiten beauftragt ist. Das 40-köpfige Gremium, das zuvor auch als "Oberster Gerichtshof von Facebook" bezeichnet wurde, wird befugt sein, verbindliche Entscheidungen über die Zulässigkeit strittiger Inhalte zu treffen – Fälle die von Nutzern oder von Facebook selbst gemeldet werden.
Dies ist einem am Dienstag veröffentlichten Weißbuch des Unternehmens zu entnehmen. Darin wird betont, dass dieser neue Aufsichtsrat auf Wunsch der Öffentlichkeit völlig unabhängig von Facebook sein werde. Doch dieses "Gericht" wird von Facebook selbst eingesetzt und auch finanziert – und soll dabei verbindliche Entscheidungen fällen, die die Freiheit der Meinungsäußerung (zumal Facebook ein Monopolist in Sachen soziale Netzwerke ist) betreffen. Was könnte schon schief gehen?
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Das Unternehmen hat sich sichtlich bemüht, dieses neue Konstrukt unabhängig erscheinen zu lassen: Die Art von Instanz, vermittels derer ein Benutzer in der Lage sein könnte, Gerechtigkeit zu erlangen, falls er zum Beispiel von einem Algorithmus gesperrt wurde, der nicht in der Lage ist, Sarkasmus oder Kontext zu verstehen. Dieser Aufsichtsrat wird jedoch von einem von Facebook finanzierten und durch von Facebook ernannte Treuhänder verwalteten Trust bezahlt, während die obersten Ratsmitglieder ebenfalls von Facebook ernannt werden.
"Wir haben uns mit den Reaktionen einverstanden erklärt, wonach Facebook den gesamten Rat nicht allein einsetzen sollte", heißt es in der Pressemitteilung. In dieser wird des Weiteren erläutert, wie Facebook "eine kleine Gruppe von Gründungsmitgliedern" auswählen werde, die die weiteren Posten vergeben wird. Ein Kuratorium von Treuhändern – ebenfalls von Facebook ernannt – wird die formelle Ernennung aller Mitglieder vornehmen, die eine dreijährige Amtszeit haben sollen.
Facebook betont ferner mit Nachdruck, man fühle sich "verpflichtet, eine vielfältige und qualifizierte Gruppe auszuwählen" – ausgeschlossen seien aktuelle oder ehemalige Facebook-Mitarbeiter oder deren Ehepartner, aktuelle Regierungsbeamte oder Lobbyisten (ehemalige sind wohl in Ordnung), hochrangige Vertreter politischer Parteien (niedrigere Ränge sind anscheinend okay) oder bedeutende Aktionäre von Facebook.
Eine Anwaltskanzlei wird zudem beauftragt, Kandidaten auf mögliche Interessenkonflikte zu überprüfen. Doch angesichts der offensichtlichen Unfähigkeit von Facebook, den Interessenkonflikt zu erkennen, der damit verbunden ist, "unabhängige" Vorstandsmitglieder für verbindliche Inhaltsentscheidungen zu bezahlen, fällt es schwer, vorauszusagen, was hier als "Konflikt" gelten würde.
Wie wird Facebook entscheiden, welche Fälle demokratisch behandelt werden? Fälle mit erheblichen Auswirkungen auf die reale Welt, das heißt, Fälle, die eine große Anzahl von Menschen betreffen, "die freie Rede, Sicherheit, Privatsphäre oder Würde eines anderen" bedrohen oder eine öffentliche Debatte ausgelöst haben – und im Hinblick auf die bestehende Politik schwer zu analysieren sind, sollen zuerst gehört werden. "Vorerst", wie es heißt, werden nur von Facebook selbst initiierte Fälle vom selbsternannten "Gericht" behandelt – Facebook-Nutzer können sich erst Mitte 2020 mit ihre eigenen Beschwerden an die Instanz wenden.
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Sollte der Sozialnetzwerk-Monopolist in Wirklichkeit lediglich auf einen Ablass der "Unabhängigkeit" aus sein, um damit einige seiner umstritteneren Moderationsentscheidungen zu rechtfertigen – gerade jetzt, wo die Haie der Kartell- und Monopolüberwachungsbehörden die Kreise um das Unternehmen immer enger ziehen?
Außerdem: Die Entscheidungen werden nicht nur verbindlich sein, sondern auch als Präzedenzen für andere Fälle gelten, die nicht angehört werden, solange sie als ähnlich genug angesehen werden können. Wird damit eine Büchse der Pandora mit den Übeln einer weitreichenden Zensur geöffnet?
In einem Begleitschreiben zum Weißbuch behauptet Facebook-Chef Mark Zuckerberg, dass die Moderatoren des Unternehmens bei Entscheidungen, Inhalte zu sperren oder zu löschen, "von internationalen Menschenrechtsstandards geleitet", und die "Authentizität, Sicherheit, Privatsphäre und Würde" berücksichtigen würden.
Doch wenn schon die eigenen Anwälte des Unternehmens bereits die Existenz der Privatsphäre der Nutzer grundlegend in Frage gestellt haben, was verheißt das für die anderen "Werte", geschweige denn für irgendwelche "internationalen Menschenrechtsstandards"?
Den vielleicht bedrohlichsten Eindruck mag die Tatsache erwecken, dass Zuckerberg für seinen pompös "Oberster Gerichtshof" genannten Aufsichtsrat höhere Ziele im Sinn zu haben scheint, als nur Entscheidungen zur Moderation von Facebook-Inhalten abzuwägen:
Wir gehen davon aus, dass der Vorstand zunächst nur eine geringe Anzahl von Fällen hören wird, aber im Laufe der Zeit hoffen wir, dass er seinen Anwendungsbereich erweitern und möglicherweise auch weitere Unternehmen aus der gesamten Branche einbeziehen wird.
Eine solche Aussage sollte man nicht leichtsinnig als einen Wegwerfspruch interpretieren – zumal ihr Urheber zuvor erklärte, er wolle, dass Facebook den Internet-Nutzern den Internet-Führerschein ausstelle. Das Sozialkredit-System ist damit möglicherweise keine Sache der fernen Zukunft, und es würde nicht staatlich sein wie in China – sondern privatwirtschaftlich-monopolistisch. Und Zuckerberg würde nur zu gern über den Punktestand walten.
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