von Wladislaw Sankin
Ein großer Schotterplatz, ein paar vereinzelte flache Gebäude, das ganze Gelände von einem Graben umrandet und von Stacheldraht umzäunt, in regelmäßigen Abständen ragen Wachtürme empor. Hier und da sind Besucher zu sehen, vereinzelt und in kleinen Gruppen.
Das Gelände ist eine Gedenkstätte, auf dem Territorium des Konzentrationslagers Dachau errichtet. Für die Schrecken des Nationalsozialismus ist der Name sprichwörtlich, denn Dachau war das mit einer Zeitspanne von März 1933 bis 1945 das am längsten betriebene Konzentrationslager. Vor allem in der Kriegszeit seit 1939 sind in diesem nördlichen Vorort Münchens über 41.000 Menschen qualvoll ums Leben gekommen.
Es ist sonnig, fast heiß. Es ist kurz vor 17 Uhr, bald schließt das Eingangstor für Besucher. Das Tor mit den Worten "Arbeit macht frei". Während die sportlich gekleideten Besucher mit ihren Rücksäcken sich auf den Weg in Richtung Ausgang machen, eilt ihnen über das staubige Territorium eine Frau im dezenten Hosenanzug entgegen. Ihr Ziel liegt im entlegensten Winkel des KZ-Territoriums – eine kleine grüne Ecke, die fast wie ein Park aussieht.
Doch die Gemütlichkeit täuscht. Hier sollten sich die schrecklichsten Dinge ereignen: Die zum Tode verurteilten Insassen wurden hier erhängt oder erschossen und gleich im Krematorium verbrannt. Auch eine Gasdusche wie in den Vernichtungslagern gibt es hier, angeblich wurde sie jedoch selten eingesetzt.
Die Frau ist die stellvertretende Leiterin der Gedenkstätte Andrea Riedle. Am Krematorium trifft sie sich mit einem russischen und einem israelischen Diplomaten sowie einem Gast aus Russland. Gemeinsam halten die Ansprachen. Es sind Kränze vorbereitet.
Von insgesamt über 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen starb an den katastrophalen Lebensbedingungen in den Lagern der deutschen Wehrmacht mehr als die Hälfte. Die NS-Regierung erklärte kurzerhand die Genfer Konvention für diese Personen für ungültig. Während des Kalten Krieges wurde Erinnerung an das Schicksal sowjetischer Kriegsgefangenen weitgehend ausgeblendet. Obwohl sich dies mittlerweile geändert hat, gibt es immer noch großen Nachholbedarf.
Die KZ-Gedenkstätte Dachau gehört zu jenen Institutionen, die sich seit Jahren bemühen, diese Erinnerungslücke zu schließen. Am ehemaligen Schießübungsplatz unweit des KZ-Territoriums, wo in den Jahren 1941–42 über 4.000 sowjetische Kriegsgefangene ermordet worden sind, wurde nun eine Gedenkstelle errichtet. Dort werden die Namen der hier Erschossenen eingraviert.
Riedle nennt die offizielle Grundlage für diesen Massenmord: Es sollten "untragbare Elemente" in den Konzentrationslagern durch die Gestapo ausgesondert und durch Sonderkommandos ermordet werden. So sollten die ideologische Beeinflussung der deutschen Bevölkerung und die Bildung von Widerstandsgruppen verhindert werden.
Seit der Wende im Krieg brauchte die NS-Führung jedoch auch die "untragbare Elemente" zunehmend als Arbeitskräfte. Sie konnten dabei in Gefangenschaft weitgehend unter sich bleiben. In mehreren Konzentrationslagern haben die ehemalige sowjetischen Militärangehörigen angefangen, Untergrundgruppen zu bilden.
Massenflucht aus den Nazi-Lagern oder gar Aufstände gab es aber nur ganz wenige, in einem Todeslager gelang das nur einmal: bei der Flucht aus Sobibór im Oktober 1943. Organisiert wurde die Flucht von einem sowjetischen Militärangehörigen Alexander Petschjorski. Er und seine Mitstreiter töteten elf SS-Wachmänner und verhalfen 350 Insassen zur Flucht. Nach der Jagd auf Geflüchtete blieben 53 Menschen am Leben, darunter Petschjorski selbst, der hinter die Frontlinie floh.
Seinen Namen trägt nun eine russische Stiftung. Der Leiter der Stiftung Ilja Wassiljew ist an diesem Tag ebenfalls in Dachau anwesend. Sein Ziel ist die Erforschung der Tätigkeit sowjetischer Widerstandsgruppen in deutschen Konzentrationslagern und deren Würdigung.
Dachau soll zu einem der wichtigen Erinnerungsorte werden, denn an jenem Ort, an dem heute die Kranzniederlegung in der Nähe des Krematoriums stattfindet, wurden am 4. und 5. September 1944 insgesamt 92 sowjetische Kriegsgefangene hingerichtet. Sie waren Mitglieder der Untergrundorganisation "Bruderschaft der Gefangenen" (russisch BSW), die hauptsächlich aus sowjetischen Militärangehörigen bestand.
Da die Lagerinsassen in der zweiten Hälfte des Krieges ständig von einem Lager in ein anderes verlegt wurden, konnte die Geheimorganisation Kontakte zu anderen Lagern sowie Ostarbeitern und deutschen Kommunisten knüpfen. Geradezu fantastisch klingen aus heutiger Sicht die Ziele der BSW – Unterstützung der Roten Armee, Bewaffnung der Gefangenen bis hin zum Ausbruch aus den Lagern und ein Aufstand, der zum Sturz des NS-Regimes führt.
Für die Aufdeckung der gut getarnten Gruppe hat die Gestapo eine Sonderkommission eingesetzt und durch Spitzel all ihre Mitglieder und Sympathisanten enttarnt und "ausgesondert". Ab diesem Moment waren sie alle dem Tode geweiht. Insgesamt wurden über 300 Inhaftierten exekutiert.
Andrea Riedle von der Gedenkstätte erzählt den Versammelten, wie dies an diesen Tagen vor 75 Jahren im KZ Dachau geschah: In kleineren Gruppen von je 15 Gefangenen wurden die Verurteilten entkleidet und per Genickschuss hingerichtet, danach hat sie ein Gefangenenkommando in das Krematorium nebenan gebracht, wo ihre Leichen eingeäschert wurden. Das Ganze habe nur eine halbe Stunde gedauert.
Die Gedenkstätte unterstützt das Vorhaben der Stiftung. Es soll künftig eine spezielle Gedenktafel zur Tätigkeit der "Bruderschaft der Gefangenen" in den Ausstellungsräumen geben. "Wir widmen allen Widerstandsgruppen große Aufmerksamkeit", sagt sie RT.
Wassiljew sieht aber beim bisherigen Erinnerungskonzept der Gedenkstätten in Europa Veränderungsbedarf. Solange die Überlebenden am Leben waren, habe man sich auf deren Leiden konzentriert, und dies sei auch richtig gewesen.
Die Helden des Widerstandes in Konzentrationslagern, der oft von sowjetischen Soldaten und Offizieren angeführt wurde, und die Helden des jüdischen Widerstandes in Ghettos und Vernichtungslagern haben es verdient, dass die nächsten Generationen der Bürger Europas Europäer am Beispiel dieser heldenhaften Taten erzogen werden", sagt er in seiner Ansprache.
Auf dem Rückweg über das weitläufige KZ-Gelände kommen wir ins Gespräch. Die sowjetischen Kriegsgefangenen seien trotz ihres schrecklichen Schicksals im Kriegsgedenken sehr lange vernachlässigt worden, auch in Russland. Gleich nach dem Krieg galten sie als Feiglinge, da sie sich lebend ergeben hätten.
Es habe Ausnahmen bei der Huldigung einiger Ausnahmehelden gegeben, aber dies sei oft einflussreichen Schirmherren innerhalb der Sowjetführung zu verdanken. Zur Zeit der Perestroika und in den frühen Jahren nach der Sowjetunion habe es ein Paradigma der Schwärzung des Kriegsgedenkens gegeben. "Die Erinnerung wurde also zweimal zertrampelt", sagt Wassiljew. Es sei erst jetzt möglich, dass die Kriegsgefangenen einen angemessenen Platz in der Erinnerung finden.
Und dieser Platz habe viel mit deren Kampf zu tun. Mit gehorsamem Stillhalten hätte man im KZ-System größere Überlebenschancen gehabt. Die Widerständler setzten sich unmögliche, fantastische Ziele und nahmen dabei den sicheren Tod in Kauf, betont Wassiljew.
Diese heutigen Gedenkstätten kultivieren den Tod, wir schlagen vor, den Willen zum Sieg zu kultivieren. Die Sowjets haben überall den Geist des Sieges mit sich getragen, auch in Gefangenschaft. Nur so konnte der Ausbruch aus Sobibór zustande kommen. Dieser Moment fehlt. Für die Nachkommen braucht man etwas, das den Geist heben kann. Das braucht man auch hier, in Europa", sagt Wassiljew uns anschließend.
Unser Gespräch geht zu Ende, Ilja Wassiljew eilt sich zum Flughafen. Er wird künftig noch Möglichkeiten bekommen, seine Ideen zu präsentieren. In Russland wird derzeit ein Dokumentarfilm gedreht, der von der "Bruderschaft der Gefangenen" erzählt. Die Zusammenarbeit mit den deutschen Gedenkstätten beginnt auch jetzt erst.
Die Uhr zeigt inzwischen kurz vor 19 Uhr an. Am Wachturm vorbei, vor dem vor 75 Jahren ein Hochspannungsstacheldraht gezogen war, verlassen wir diesen Ort, als Letzte für heute.