Gerade jetzt, zu einem recht sensiblen Zeitpunkt für den Spiegel – eine neue Chefredaktion soll im Januar offiziell ihre Arbeit aufnehmen, die Zusammenlegung der Print- und Online-Redaktion steht bevor, dazu die andauernden Auflagenverluste – erschüttert ein Betrugsskandal das selbsternannte Leitmedium des deutschen Journalismus. Der nun ehemalige Spiegel-Redakteur Claas Relotius soll jahrelang Geschichten manipuliert und Protagonisten erfunden haben, teilte das Medienhaus selbst mit. Ein GAU für ein Nachrichtenmagazin, das stets selbst seine herausragende journalistische Qualität hervorhebt – basierend auf aufwendigen Recherchen und exzellenten Quellen. Zudem rühmt sich das Haus seiner Qualitätssicherung, also einer Extra-Abteilung unter dem Namen "Dokumentation", in der rund 60 Mitarbeiter stets sehr gewissenhaft die Fakten verifizieren sollen.
Schock: Wie konnte das passieren?
Der Autor, der jahrelang nicht nur intern hochgelobt wurde, könnte seinem Verlag bis zu 55 Fälschungen untergejubelt haben. Das Ausmaß an gedruckten "Fake News" ist bis jetzt unklar. Der Skandal soll intern aufgeklärt werden. Der Spiegel will nun herausfinden, wie das passieren konnte. Man sei "geschockt", "erschüttert", "wütend", aber auch "niedergeschlagen".
So lässt sich sagen, dass Claas Relotius, 33 Jahre alt, einer der auffälligsten Schreiber des Spiegel, ein bereits vielfach preisgekrönter Autor, ein journalistisches Idol seiner Generation, kein Reporter ist, sondern dass er schön gemachte Märchen erzählt, wann immer es ihm gefällt", heißt es in einem am Mittwoch auf Spiegel Online veröffentlichten Bericht.
So sollen in den Texten des 33-Jährige zahlreiche Zitate, Orte, Szenen und Protagonisten "erdacht", "erfunden", "gelogen" sein.
Das ist die vielleicht schwerste publizistische Krise beim 'Spiegel'", erklärte die neue Chefredaktion um Steffen Klusmann.
Es seien alle erschüttert. "Das trifft ins Mark", sagte Geschäftsführer Thomas Hass. Die Spiegel-Leitung will nun eine Kommission aus internen und externen Experten einsetzen, um den Fälschungen nachzugehen.
In die öffentliche Fake-News-Debatte werden wir jetzt eingeordnet werden. Dem müssen wir uns stellen", sagte der stellvertretende Chefredakteur Dirk Kurbjuweit.
Der dem Gesellschaftsressort zugeordnete Reporter hatte gestanden, zumindest weite Teile seines Werks manipuliert zu haben. Als Motiv soll er den Druck, unter dem er gestanden habe, genannt haben. Nach Angabe der Leitung des Magazins habe er sein Büro am Sonntag geräumt und seinen Vertrag am Montag gekündigt. Der Journalist schrieb erst als freier Mitarbeiter für den Spiegel, seit anderthalb Jahren war er als Redakteur fest angestellt. Seit 2011 sind dem Medienhaus zufolge knapp 60 Texte von Relotius im Heft und bei Spiegel Online erschienen. Vor der Zeit beim Spiegel soll er unter anderem für taz, Welt oder Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung geschrieben haben.
Geschichte über Geschichten mit erfundenen Szenen und Protagonisten
Laut der Spiegel-Mitteilung soll Relotius die Geschichte über einen zu Unrecht in Guantanamo einsitzenden Jemeniten, der 14 Jahren lang gefoltert und isoliert werde, doch am Ende nicht mehr freigelassen werden wolle, geschrieben haben, ohne den Mann je gesehen oder mit ihm gesprochen zu haben. Er soll unter anderem nur mit "einem Bruder im Jemen" oder einem "einstigen Zellennachbarn" Gespräche geführt haben. Auch eine "mit Preisen überhäufte" Geschichte zweier Waisenkinder aus Aleppo, die in der Türkei zu Kindersklaven geworden seien, soll offenbar problematisch sein.
Oder beispielsweise in einer Reportage namens "Touchdown", in der es um einen Football-Star geht, der aus Protest gegen den alltäglichen Rassismus in Amerika beim Abspielen der Nationalhymne niederkniete und danach arbeitslos wurde, soll der Reporter sich zahlreiche Situationen und Gespräche einfach ausgedacht haben. Obwohl im Text der Eindruck entsteht, der Reporter sei Colin Kaepernick ganz nah gekommen und habe sogar mit seinen Eltern gesprochen, ist laut Spiegel leider nichts davon wahr. "Es hat nie stattgefunden", schreibt Ullrich Fichtner in seinem Bericht. Auch eine Reportage über die kleine US-Stadt Fergus Falls, in der Donald Trump überragende Unterstützung genießen soll, wurde mit sehr viel Fantasie geschaffen. Den Einwohnern der Stadt gab er demnach "falsche Biografien", schilderte erfundene Szenen wie eine aus einer Schule, in der die meisten Kinder als "ihre Vorbilder für den amerikanischen Traum" Donald Trump gemalt hätten. Auch einen Schild am Ortseingang, auf dem "Mexicans Keep Out" – "Mexikaner, bleibt draußen" – stand, beschrieb er im Text. Laut Spiegel sei "all das gelogen". Es sei "ausgedachter Mist".
CNN-Preis als Journalist der Jahres wurde ihm aberkannt - aufgrund der Täuschungsvorwürfe
Nun fragen sich viele im Verlag selbst, aber auch in der ganzen Branche, warum das niemandem aufgefallen ist, warum die Kontrolle versagt hat. "Wir werden prüfen, inwiefern hier das Verifikationssystem nicht funktioniert hat", hieß es aus dem Verlag. Ein Reporterkollege, der zuletzt eine andere Geschichte zusammen mit dem Redakteur recherchiert hat, war misstrauisch geworden und hatte gegenüber dem Medienhaus Bedenken geäußert. Ihm sei es danach gelungen, Material gegen den Kollegen zu sammeln. Und so kam der Fall ins Rollen.
Claas Relotius gab inzwischen vier seiner zahlreichen Reporterpreise zurück. Der Journalist habe auf den vier Mal an ihn verliehenen Deutschen Reporterpreis verzichtet, sagte der Journalist Cordt Schnibben vom Reporter-Forum am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur. Der Ex-Spiegel-Redakteur habe sich per SMS beim Reporter-Forum gemeldet und sich entschuldigt. Damit sei er einer Aberkennung des Preises zuvorgekommen. Er war in den Jahren 2013, 2015, 2016 und 2018 ausgezeichnet worden.
Am Donnerstag kam auch die Meldung, dass der Nachrichtensender CNN International Relotius seine Auszeichnung aberkannt habe. Relotius war 2014 zum Journalisten des Jahres gekürt worden. Man habe sich aufgrund der Täuschungsvorwürfe einstimmig zu diesem Schritt entschieden, so CNN in einer Pressemitteilung.
Aus dem Spiegel-Verlag kam gestern ebenfalls eine Entschuldigung.
Es tut uns leid, was passiert ist. Wir haben eine große Leserschaft, die sich nun fragen kann, ob dem Spiegel noch zu trauen ist. Wir haben viele Mitarbeiter, die sauber und gut arbeiten und die in nächster Zeit damit leben müssen, unter Generalverdacht zu stehen. Wir müssen unter Beweis stellen, dass dieser Verdacht unbegründet ist.
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