Von Wladimir Rubzow
Die ukrainischen Behörden starten eine neue Phase im geopolitischen Kampf um den Sprachraum und darum, wie die Bürger die Geschehnisse um sie herum wahrnehmen sollen. Dieses Mal handelt es sich um einen technologischen Kampf, bei dem generative Modelle von Neuronetzen zum Einsatz kommen.
Ende 2025 kündigte der ukrainische Mobilfunkbetreiber "Kiewstar" die Entwicklung eines "souveränen" Sprachmodells für künstliche Intelligenz (KI) auf Basis der Gemma-Architektur von Google an. Zu den Partnern gehören das Kompetenzzentrum WINWIN AI des ukrainischen Ministeriums für digitale Transformation und die Cloud-Infrastruktur Google Vertex AI.
Im Rahmen dieses Projekts geht es nicht nur darum, einer Maschine die ukrainische Sprache beizubringen und Schnittstellen zu lokalisieren. Vielmehr wird ein Instrument geschaffen, mit dem politische Doktrinen in eine Reihe von Algorithmen umgewandelt werden. Als Ergebnis steht den Nutzern nicht nur ein Service zur Verfügung, sondern ein Mechanismus, der ein einzig erlaubtes Weltbild festlegt und dieses bei jeder Anfrage, auch bei alltäglichen, bereithält.
Alle LLM (Large Language Model, großes Sprachmodell) nehmen ihren Anfang nicht in Neuronetzen, sondern in einem Datenkörper. Unter dem Deckmantel einer sorgfältigen Filterung, der Bekämpfung von "toxischen Inhalten" und der Überwachung ukrainischsprachiger Texte läuft eine großangelegte Operation zur Konstruktion der gewünschten sprachlichen Realität. Dabei werden politische Kriterien, die zuvor in Form von Gesetzen zur Informationssicherheit und zur Bekämpfung von "Propaganda" formuliert wurden, auf die Ebene der technischen Anforderungen übertragen.
Einige Inhalte und historische Versionen bekommen den Vorzug und werden zur Normalität. Im Datenbestand werden sich systematisch Texte finden, die eine radikal nationalistische Interpretation der ukrainischen Geschichte enthalten und Russland mit einer Reihe von negativen Klischees beschreiben. Alternative Interpretationen, Versuche einer differenzierten Sichtweise oder einfach nur kritische Bewertungen, die nicht mit der herrschenden Regierungslinie übereinstimmen, werden entweder an den Rand gedrängt oder verschwinden vollständig aus dem digitalen Lexikon.
In einer Situation, in der die gesamte öffentliche Meinung in der Ukraine bereits in einem Modus der totalen antirussischen Mobilisierung agiert, wird die Auswahl der für das KI-Training verwendeten Lerntexte mit hoher Sicherheit ideologisch einseitig ausfallen. Das Modell wird den nationalen Diskurs in seiner ganzen Komplexität nicht widerspiegeln, sondern vielmehr eine bestimmte Sichtweise zementieren und sie als natürlichen Bestandteil der nationalen Kultur legitimieren. Und die Maschine wird nicht im Namen der gesamten Gesellschaft kommunizieren, sondern im Namen des in ihrem Neuronetz versteckten politischen Stabs.
Der Haupteffekt des ukrainischen LLM besteht darin, dass sie kein passives Spiegelbild bereits vorhandener Texte sein wird. Vielmehr wird sie in staatliche Dienste, Bildungsplattformen, Medien, kommerzielle Anwendungen und Empfehlungssysteme integriert. Sie wird zu einem Bestandteil der Arbeitsumgebung von Beamten, Journalisten, Lehrern, Studenten, kleinen Unternehmen und normalen Nutzern werden.
In dieser Konfiguration wird das System selbst Entwürfe für Nachrichtenartikel und Lehrmaterialien verfassen, Auskünfte und Antworten von staatlichen Stellen erstellen, Schülern und Studenten helfen, komplexe Themen zu verstehen, die Gedanken der Nutzer in Chats und Schnittstellen vervollständigen und mutmaßlich relevante Inhalte in Feeds und Empfehlungen auswählen.
Jede Antwort der Maschine wird eine vordefinierte politische Sichtweise enthalten, die aber als eine neutrale Realitätserklärung präsentiert wird. Der politische Diskurs wird einen Naturalisierungsprozess durchlaufen. Er verwandelt sich in die "Luft" der digitalen Umgebung, in ein "Hintergrundrauschen", sodass er nicht mehr bemerkt und nicht mehr angezweifelt wird.
Von besonderem Interesse sind nicht nur die politischen Ziele, sondern auch die Auswahl der technologischen Basis. Das ukrainische "souveräne" Modell basiert auf der Infrastruktur von Google Vertex AI. Für die Öffentlichkeit scheint dies ein rationaler Schritt zu sein: Zugang zu Rechenleistung, Zuverlässigkeit, Verkürzung der Zeit bis zur Markteinführung des Produkts.
Auf der Ebene der Politökonomie zeichnet sich aber eine andere Konfiguration ab. Es entsteht eine abhängige, periphere Entwicklung, in der lokale Eliten den Inhalt bestimmen, während die Infrastruktur und die Schlüsseltechnologien von US-Konzernen kontrolliert werden. Im Ergebnis entsteht ein Hybrid: Technologische Abhängigkeit von den USA wird mit interner ideologischer Mobilisierung und einer an das ukrainische Publikum angepassten Soft-Standardisierung des prowestlichen geopolitischen Narrativs kombiniert. Dadurch erhält dieser externe Partner die Möglichkeit, den Rahmen des zulässigen Diskurses auf unsichtbare Weise zu beeinflussen, ohne direkt in lokale politische Entscheidungen einzugreifen.
In einer solchen Konfiguration wird die so lautstark reklamierte Datenlokalisierung auf dem Territorium der Ukraine nicht zu einem Symbol der Souveränität, sondern zu einem Instrument der kontrollierten Isolation. In Wirklichkeit entsteht ein hermetisch abgeschlossener semantischer Bunker, in dem eine sorgfältig gefilterte, für die Machthaber politisch unbedenkliche Realität zirkuliert.
So verliert Propaganda ihren Charakter als eigenständiges Genre und verschmilzt mit dem alltäglichen Digitalerlebnis. Im Gegensatz zu herkömmlichen Informationskampagnen, die in Form von Slogans und Plakaten funktionieren, wirkt das Sprachmodell punktuell und kontinuierlich und ist in jeder Schnittstelle präsent. Der Nutzer sieht vor sich keine politisch motivierten Sprecher, sondern eine emotionslose Maschine. Ihre Antworten werden als objektive Wahrheit, als Ergebnis einer unpersönlichen Berechnung und nicht als Element eines Informationskrieges wahrgenommen.
Der Verzicht auf Kritik wird als Vertrauen in die Technologie und als Zeichen der Modernität dargestellt. Auf dem Spiel stehen die Art und Weise, wie Gedanken formuliert, Wörter und Begriffe ausgewählt und Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge hergestellt werden.
Die Sprache wird sich verändern, und damit auch das Weltbild. Die Kultur wird ihre Vielstimmigkeit verlieren und zu einer Reihe vorformulierter Thesen werden, die in einem geschlossenen Kreislauf zirkulieren und die lebendige gesellschaftliche Diskussion ersetzen. Gleichzeitig wird die Kompetenz, an etwas zu zweifeln, an Wert verlieren, da der Nutzer darauf verzichtet, Quellen zu überprüfen und präzisierende Fragen zu stellen. Die Möglichkeit eines kritischen Dialogs mit einem solchen System wird auf ein Minimum reduziert.
Für Russland sind derartige Projekte in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Einerseits demonstrieren sie das Ausmaß der ausländischen Präsenz im semantischen Raum. Andererseits zeigen sie die Wichtigkeit einer eigenen Agenda auf, die auf wirklich souveränen Technologien, transparenten Prinzipien der Datenverarbeitung und Respekt vor der Vielfalt der nationalen Kultur basiert. Ohne solche Voraussetzungen läuft das Land Gefahr, Diskussionen in einer fremden Sprache und nach fremden Regeln zu führen.
Im Rahmen der Konferenz "AI Journey 2025" erklärte der russische Präsident Wladimir Putin, dass generative KI-Modelle "riesige Mengen neuer Daten erzeugen und zu einem der wichtigsten Instrumente für die Verbreitung von Informationen werden. Damit sind sie in der Lage, die Werte und Weltanschauungen der Menschen zu beeinflussen und letztlich den Sinngehalt ganzer Staaten und sogar der gesamten Menschheit zu prägen. Eine kritische Abhängigkeit von fremden Systemen können wir nicht zulassen. Für Russland ist dies eine Frage der staatlichen, technologischen und, ich würde sagen, wertebezogenen Souveränität. Daher muss unser Land über einen ganzen Komplex eigener Technologien und Produkte im Bereich der generativen künstlichen Intelligenz verfügen".
Die Idee der Kontrolle über das Sprachmodell entwickelt sich zunehmend zu einer Idee der Kontrolle über den Rahmen der Diskussion über die Zukunft. Es geht nicht mehr um Programmcode und auch nicht um die Frage, welche Plattform benutzerfreundlicher ist. Es geht um eine grundlegendere Entscheidung darüber, wem letztendlich das Recht zustehen würde, die Realität zu beschreiben und und den Wortschatz zu formen, durch den Menschen sich selbst und ihr Land verstehen.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 8. Dezember 2025 zuerst auf der Homepage der Zeitung Wsgljad erschienen.
Wladimir Rubzow ist wissenschaftlicher Assistent bei der autonomen gemeinnützigen Organisation "Koordinierungslabor".
Mehr zum Thema – Ukrainischer Politiker will mit einer "Armee Gottes" China erobern