Von Susan Bonath
Die bürgerlich-demokratische Firnis ist dünn geworden in Deutschland. Die Kapitallobby hat ihre Vertreter ganz oben in der Regierung platziert. Auch CDU-Wirtschaftsministerin Katherina Reiche gehört dazu. Bis kurz vor ihrem Amtsantritt im Mai war sie als Vorstandschefin für die EON-Tochter Westenergie tätig. Heute drückt sie die arbeiterfeindliche Agenda des Kapitals politisch durch. Mit ihrer Regierungspartei unter Kanzler Friedrich Merz, ehemals Aufsichtsratschef von BlackRock Deutschland, und der neoliberalisierten SPD als Abnickerin, ist sie angetreten, die Reste des Sozialstaats zugunsten der Konzernprofite zu zerschlagen.
Neben der Abschaffung des bereits ausgehöhlten Achtstundentages , der Lockerung des Kündigungsschutzes für Beschäftigte, der zunehmenden Drangsalierung von Arbeitslosen und noch späterer Rente plant Reiche einen Angriff auf kranke Beschäftigte: Diese sollen künftig auf (zunächst) einen Tag Lohnfortzahlung verzichten – oder eben krank zur Arbeit gehen, Ansteckungsgefahr hin oder her.
Reiches Kapitalagenda
Festgehalten hat die Ex-Lobbyistin und CDU-Ministerin die geplanten Maßnahmen in ihrer "Agenda 2030", die sie mit dem Zusatz "für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit" vor gut zwei Wochen vorgestellt hatte. Wie all ihre darin verankerten Attacken auf die Lohnabhängigen in der Bundesrepublik entstammt auch ihr Plan für einen unbezahlten "Karenztag" bei Krankheit eins zu eins den antisozialen Forderungskatalogen, mit denen einflussreiche Kapitalverbände und Großkonzerne seit Monaten hausieren gehen.
Schon zu Beginn dieses Jahres schaffte es etwa Allianz-Chef Oliver Bäte mit diesem Ansinnen bis in die öffentlich-rechtlichen Medien. Der Deutschlandfunk übernahm seine Propaganda kritiklos und fabulierte bereits in der Überschrift von einem "Karenztag gegen Blaumachen". Die mitgelieferte böswillige Unterstellung: Lohnabhängig Beschäftigte ließen sich großteils aus purer Faulheit krankschreiben.
Ackern für die Rendite
Der Krankenstand in Deutschland sei zu hoch, ätzte Bäte damals. Dabei bezog er sich auf die erfassten Arbeitsunfähigkeitstage im Jahr 2023. Aussagekräftig sind diese kaum, denn damals galten teilweise noch Corona-Maßnahmen, um die Panik vor dem "Todesvirus" aufrechtzuerhalten. Viele Ärzte verbarrikadierten sich in ihren Praxen und ließen ihre Patienten mit FFP-2-Masken zuweilen sogar draußen warten. Wer sich wegen einer Erkältung krank fühlte, konnte sich per Telefon den gelben Schein besorgen. Mit Nachdruck appellierte die Politik an die Bevölkerung, diese Möglichkeit zu nutzen, um Ansteckungen zu verhindern.
Doch die Wirtschaftskrise rumort weiter am Kapitalstandort Deutschland. Wo die Profitraten vieler Konzerne außerhalb der Rüstungsbranche schwächeln, werden Grippe und Covid, Sterbezahlen und Seniorenschutz, Epidemiologie und Virologie ganz hastig wieder nebensächlich. Ackern bis zum Umfallen für die Rendite von ein paar Wenigen ist angesagt – auch mit Fieber und Husten, Bandscheibenvorfall oder Rheumaschub.
Neoliberale Gehirnwäsche
Um die lohnabhängigen Massen nicht auf die Barrikaden zu treiben, plappert Ministerin Reiche in ihren Reden die übliche neoliberale Propaganda der Kapitalverbände rauf und runter: Die Lohnfortzahlung ab dem ersten Tag setze "falsche Anreize", wetterte sie zum Beispiel. Und: "Wir brauchen mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt". Deutschland müsse außerdem auf diese Weise das ominöse "Aufstiegsversprechen […] dringend wieder mit Leben füllen" – stupide Gehirnwäsche in Dauerschleife eben, wie man sie kennt.
Der Investitionsbeauftragte von Bundeskanzler Merz, Martin Blessing, forderte Ende Oktober sogar, mit "mehr kreativer Zerstörung" wieder "mehr Kapitalismus (zu) wagen". Seine leitmedial verbreiteten Heilsversprechen, die eher wie eine Gebetszeremonie an den Markt aus anarcho-kapitalistischen Denkfabriken klingen, gab der ehemalige Commerzbank-Chef Blessing im Oktober ausgerechnet bei der sogenannten IPO Night der Weimer Media Group zu Besten.
Offene Hinterzimmer-Korruption
Das Unternehmen von Kulturstaatsminister Wolfram Weimer ist wenig später bekanntlich in die Schlagzeilen geraten, weil es Hinterzimmerkontakte mit einflussreichen Politikern für fünfstellige Summen an Lobbyisten verkauft. Früher wären Minister wohl wegen weit geringerer Eskapaden zurückgetreten. Heute gehört Korruption solchen Ausmaßes offenbar zum guten deutschen Ton.
Weimer machte es sich einfach: Seine Geschäfte hat er vorübergehend einem Treuhänder übergeben, kassiert weiter fröhlich ab und klebt auf seinem Posten, gut gedeckt von Friedrich (BlackRock) Merz. Und die korrupten Hinterzimmertreffen laufen einfach weiter.
So haben auch für 2026 bereits drei Minister ihre Teilnahme an dem berüchtigten weimerschen Lobbytreff, dem sogenannten "Ludwig-Erhard-Gipfel" zugesagt, wie aus einer aktuellen Regierungsantwort hervorgeht: Kanzleramtschef Thorsten Frei (CDU), Forschungsministerin Dorothee Bär und Landwirtschaftsminister Alois Rainer (beide CSU). Auch Wirtschaftsministerin Reiche wurde wieder angefragt, heißt es. Doch ob sie zusagt oder nicht, ist eigentlich egal.
Manchesterkapitalismus
Denn klar ist jetzt schon: Die über die Weimer Group und viele andere Thinktanks von Superreichen für ihresgleichen forcierten Pläne finden sich längst in Reiches "Agenda 2030" wieder. Sie und andere Lobbyisten in der Bundesregierung arbeiten emsig daran, die antisozialen Kapitalpläne umzusetzen.
Dies konsequent zu Ende gedacht, soll es den Sozialstaat bald nur noch für Millionenerben, Großaktionäre und sonstige Hochvermögende geben. Für die arbeitende Mehrheit geht es indessen stramm in Richtung Manchesterkapitalismus. In einem solchen geht, wer zu oft krank wird, psychische Probleme bekommt oder aus Altersgründen nicht mehr kann, im Zweifel eben einfach unter.
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