Von Elem Chintsky
In den sozialen Medien (und vielleicht an manchen Küchentischen der analogen Welt) wird eine stille Debatte ausgefochten. Wer ist Schuld daran, dass die Systemparteien immer wieder neue – wenn auch knappere – Mehrheiten bekommen? Wem sind die systematische Entwertung des Geldes und die Wohnraumkrise zu verdanken? Wer trägt die Verantwortung für den Feminismus der dritten Welle, die Massenmigration und die generelle Express-Liberalisierung der westlichen Kultur und ihren womöglich baldigen Zerfall? Früher konnte das Gehalt von einem Ehepartner eine ganze Kernfamilie mit Überschuss finanzieren und binnen fünf bis zehn Jahren ein Haus abbezahlen. Heute müssen Mann und Frau in einem Haushalt arbeiten, um die Monatsmiete und die weiteren Lebenshaltungskosten zu decken.
Viele Zoomer behaupten, dies sei das Werk oder zumindest der Beitrag selbstgefälliger Boomer, die sich mit ihren multiplen Eigenheimen rechtzeitig aus dem industrialisierten Hamsterrad zurückziehen konnten, bevor das hiesige Fiatgeld von den "richtigen" Politikern zu Konfetti zerfetzt wurde. Die Frage ist, ob diese Vorwürfe und Verdachte stimmen könnten.
Grob gesprochen gibt es heute vier diskursrelevante Generationen: die Babyboomer (auch Boomer genannt, 1946–1964), die Generation X (1965–1980), die Generation Y (auch Millennials genannt, 1981–1996) und die Generation Z (auch Zoomer genannt, 1997–2012). Allerdings muss auf die Einschränkung hingewiesen werden, dass diese Kategorien lose, aber anschauliche Modelle darstellen und nicht nach Parametern strikter Wissenschaftlichkeit verstanden werden dürfen.
Deshalb gebe es bei aller Liebe zur Vereinfachung trotzdem die Grundsatzfrage, ob es dienlich sei, Menschengruppen in verschiedene Kategorien einzuteilen. Sicherlich kann jeder Mensch individuell eingeschätzt werden und dieser kann jeweils individuell seine Ideologie und Weltanschauung komplex und fundiert artikulieren und somit eine Ausnahme im Einheitsbrei darstellen. Das ist aber für eine soziologische Erforschung der Dynamiken unter den demokratischen Massen, in der durchaus Muster zu erkennen sind, nicht unbedingt nötig. Innerhalb der normativen Gerüste, auf die sich anscheinend alle geeinigt haben, gibt es auch Raum für leidenschaftlichen Dualismus: Impfgegner gegen dreifach geboosterte Impfpflicht-Befürworter. Staatsanbetende Etatisten gegen freiheitsliebende Libertäre, welche die Berührung mit der Staatsmacht meiden. Die Altparteien gegen die AfD und das BSW. Die Kriegstreiber, die gegen Russland hetzen, und diejenigen, die keinen Krieg mit Russland, also ihre Kinder und die Kinder anderer nicht an die Front schicken wollen, und beim Ukrainekonflikt zumindest bis ins Jahr 2008 zurückdenken können, statt erst beim Februar 2022 anzusetzen. Und in diesen Lagern sind sicherlich auch die Alters- beziehungsweise Generationsgruppen zu finden. Der ungarisch-jüdische Soziologe Karl Mannheim machte in seiner Forschung klar: "Eine Generation – das ist eine Gruppe, deren Jugend auf ein und dieselben historischen Prozesse und sozialen Bedingungen traf." Daraus arbeitete Mannheim schon Ende der 1920er Jahre zwei große Eigenschaften von Generationen heraus: Zum einen muss jede neue Generation aufgrund der sich wandelnden Welt einen frischen Kontakt mit der Wirklichkeit herstellen – während dieser Neuentdeckung werden Aspekte klar, die den Vorgängern verschlossen blieben. Mit dem letzten Punkt hadern verständlicherweise viele Boomer. Zum anderen gibt es auch innerhalb einer einzigen Generation mehrere Gruppen, die unterschiedlich auf diese neue Wirklichkeit reagieren. Laut der Generationstheorie von Strauss und Howe wiederum gibt es 80 bis 100 Jahre laufende Zyklen, innerhalb welcher es vier Generationen gibt, die jeweils mit einem Wendepunkt wechseln. Diesem Modell nach sind wir seit 2008 in einer geld-, gesellschafts- und geopolitischen Krisenperiode. Im Fazit wird darauf später noch einmal Bezug genommen.
Jedenfalls wird es so sein, dass, falls die AfD irgendwann sogar eine absolute Regierungsmehrheit erreichen – und dies mit signifikanter Hilfe der Zoomer an der Wahlurne bewerkstelligen – sollte, es genügend andere Zoomer geben wird, die dem Neoliberalismus und dem NATO-Flügel der Linken (sprich: alle großen Altparteien) mit maximalistischen Straßengefechten entgegentreten werden. Es gibt dieses eine Zitat (vielleicht von Ignazio Silone), das heutige Kommunisten, die Antifa und grundsätzlich alle Linken, die ein Monopol auf den Antifaschismus beanspruchen, ausgesprochen irritiert: "Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: 'Ich bin der Faschismus'. Nein, er wird sagen: 'Ich bin der Antifaschismus'." Selbst wenn der Autor dieses Gedanken namenlos wäre, müssten diese Zeilen zum Denken anregen. Zumal auch hier das Zyklische im Wechsel der Generationen samt ihrer Konflikte verkürzt sichtbar wird. Wie sonst lässt sich ein neuer, deutscher Drang nach Osten mit der Unterstützung des ukrainischen Banderismus im Kiewer Regime erklären? Unter dem Beifall aller deutschen Sozialdemokraten und vieler Linker. Diese Geschichtsvergessenheit und Verwirrung von ideologischen Konzepten ist einerseits das Versäumnis der europäischen Institutionen, aber auch der Boomer-Generation, die es eigentlich hätte besser wissen müssen. Nun wird zwar diese Sollbruchstelle (eigentlich eine Kluft) teils von den Zoomern per TikTok-Shorts mühsam aufgearbeitet – nur ist dieser langwierige Prozess im Vergleich zu der raschen Eskalationsspirale internationaler Politik immer noch viel zu träge. Die Zoomer beginnen vage zu ahnen, dass die westlichen Finanzeliten einen großen Krieg brauchen, um die jahrzehntelang angestaute Defizit-Kaskade (Staatsverschuldung, Inflation, explodierende Zinssätze, mangelnder Zugang des Westens zu spottbilliger Energie, wie in Russland, Venezuela, Iran usw.) nicht mit einem kolossalen Zahlungsausfall enden zu lassen; sondern mit der Gelegenheit, einen parteiübergreifenden "Great Reset" zu orchestrieren. Einen Great Reset, der ein neues digitales Geldsystem aufzwingen kann und die Vernichtung von Vermögen und Eigentum mit einem großen Narrativ kaschiert und sogar verherrlicht. Sowohl die Biden- als auch die Trump-Administration arbeiten auf diese schöne neue Welt hin.
Bei den Boomern ist das tägliche Absorbieren der Tagesschau im Ersten Deutschen Fernsehen ein selbstverständliches Ritual. Wie sonst kann man sich von all der freischießenden Schwurbelei "in dem geheimnisvollen Internet" noch abschirmen? Und selbst wenn man sich dann mit dem 56k-Modem mühsam ins Netz gewählt und YouTube eingeschaltet hat, landet man plötzlich sowieso wieder bei den (primär auf die Jugend geeichten) Staatskanälen STRG_F, MaiLab oder Die andere Frage des "dezentralen" GEZ-Netzwerks Funk, das praktisch eine intellektuelle Falltür zurück ins ideologische Verließ von ARD und ZDF darstellt.
Wie durch Wunderhand hilft keiner dieser "dezentral agierenden" Contentableger, die vom deutschen System erteilte Kriegstüchtigkeit gegen Moskau zu entschärfen, mehr geschichtlichen Kontext für eine neutralere Position zu liefern, und schon gar nicht eine staatspolitisch aufrichtige Aufarbeitung der eigenen Versäumnisse in den diplomatischen Beziehungen zu Russland zu gewährleisten. Auch werden die politischen und gesellschaftlichen Positionen der AfD – als größter Volkspartei und größter Opposition im Land – kaum unvoreingenommen thematisiert.
Viele Zoomer (und manche der Generation X) dagegen vermuten zumindest seit der Coronakrise eine betreute Handhabe der Leitmedien beim Interpretieren der Wirklichkeit. Während viele, die noch in den Jahren 2013–2015 aus der Meinungsmanipulation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks erwachten, zurück in den kognitiven Winterschlaf kehrten und ihr Spiegel-Abo auf "lebenslänglich" schalteten, waren die Jüngeren etwas widerstandsfähiger und erhielten sich ihre Skepsis gegenüber dem Status quo zumindest insoweit, als sie nicht jedem irrationalen Aufruf zur nationalen Selbstzerstörung folgten. Das scheint paradox – hat doch die jüngere Generation laut den abgeklärten, nahezu allwissenden Boomern eigentlich mit einer kürzeren Aufmerksamkeitsspanne zu kämpfen. Dafür können viele Boomer, indem sie unverbesserlich im Wechsel die CDU oder die SPD wählen, mit dem Verlust des (historischen) Gedächtnisses aufwarten. Videos von US-amerikanischen Zoomern, die offen und direkt den Einfluss der proisraelischen Lobby AIPAC auf ihr Land anprangern, lassen auf bessere Zeiten hoffen.
Schnittmengen zwischen den Generationen gibt es – auch in Deutschland. Viele Menschen der Generationen X und Y äußern ihre Unterstützung für die AfD – während sie von den Boomern bei "Omas gegen Rechts" als lupenreine Faschisten beschimpft werden.
Letztendlich ist die These, dass der Ausgang eines vermeintlichen Konflikts zwischen Boomern und Zoomern (und die Generationen X und Y mittendrin) das Schicksal einer ganzen Nation bestimmen könne, allzu überbewertet. Auf individueller Ebene ist es wichtig, im Nachhinein behaupten (und nachweisen) zu können, man sei stets gegen die NATO-Kriegstreiberei, gegen die Geldpolitik der EZB sowie gegen die vorsätzlich gelenkte und stimulierte Massenmigration gewesen. Aber der Gruppenkonflikt der Generationen an sich kann auch als Ablenkung verstanden werden, um die tieferen Sachverhalte und die eigentlichen Täter und Verantwortlichen zu verschleiern. Wenn man an die Kraft einer aufgeklärten Zivilgesellschaft und das Versprechen der Demokratie glaubt, wirken die letztendlichen Resultate an der BRD-Wahlurne der letzten beiden Dekaden beklemmend und frustrierend. In diesem Glauben zeigen sich immer mehr Risse, durch die man mittlerweile unschwer erkennen könnte, dass sich hinter gewählten Volksvertretern und ihren Parteien vor langer Zeit alte finanzielle und geheimdienstliche Machtinteressen organisiert haben, die "den aufgeklärten Massen" stets einige Schritte voraus sind. Letztlich sind die Boomer von dem, was die Zoomer lamentieren, auf kurz oder lang, auch betroffen. Dazu gehört die geplante Streichung der Pflegestufe 1. Neue oder erhöhte Steuern auf Immobilienbesitz wiederum dienen dazu, Anreize zum Verkauf zu schaffen – auch mit Kapitalverlust –, um dafür programmierbares Digitalgeld mit Verfallsdatum zu erhalten. Das sind alles soziopolitische Maßnahmen, von denen sich auch die einst verwöhnten Boomer nicht abschirmen können.
Mit der Generation Alpha, die seit 2013 auf die Welt kommt, wird ein neuer anthropologischer Zyklus eingeweiht. Die Coronakrise mussten sie im frühen Kindesalter mit ihren vermummten Eltern und ihren durch "soziale Distanzierung" vereinsamten Großeltern bereits erleben. Obwohl es sich so sehr anbietet, reicht es nicht aus, als klassischer Boomer die heutigen Kinder und Jugendlichen für ihre Smartphone-Abhängigkeit und verminderte Aufmerksamkeit zu verurteilen – immerhin ist dies die Welt, die die Boomer ihren Kindern und Enkeln hinterlassen haben.
Die Frage ist, ob die Millennials und Zoomer es schaffen, den von vielen altbackenen Kräften forcierten, großen Great-Reset-Krieg rechtzeitig abzuwenden. Kehren wir zurück zu der soziologischen Schablone von Strauss und Howe, würde diese kognitive Schlacht bis in die 2030er ausgefochten und entschieden werden. In jedem Fall symbolisiert dies eine epistemologische Krise, die dank moderner Technologie, erstmals mit künstlicher Intelligenz und den Deep Fake, den sie bereits angefangen hat, nach sich zu ziehen – sowie der unnachgiebigen sensorischen Überladung durch Algorithmen –, eine Spitzenintensität erreicht. Die Millennial-, Zoomer- und Alpha-Generationen stehen demnach vor einem Gordischen Knoten, den es zu lösen gilt. Wird dieses Mal ebenfalls ein Schwert zur Problemlösung geschwungen, bleibt die Frage, wer es dialektisch an sich reißt.
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.
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