Von Kaspar Sachse
Rainer Mausfelds Analyse über den homo oeconomicus und dessen Drang nach immer mehr von allem zeigt die historische Genese der Menschheit auf, und was passiert, wenn Macht zu einseitig verteilt ist. Im Begleittext zu seinem neuen Buch "Hybris und Nemesis. Wie die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt" (Westend-Verlag, Frankfurt a. M., 2023, ISBN: 9783864894077, 36 Euro) heißt es:
"Macht drängt nach mehr Macht und Reichtum nach mehr Reichtum, eine Dynamik, die den Zusammenhalt einer Gesellschaft gefährdet und sie zu zerstören droht: Dies ist eine der frühesten Einsichten der Zivilisationsgeschichte. Macht bedarf daher stets einer robusten Einhegung."
Die Demokratie hat sich als Instrument dieser "Einhegung" gezeigt, wurde aber vor allem in den letzten 30 Jahren zu einer leeren Worthülse umetikettiert, die eben nicht mehr den Herrschenden auf die Finger klopft, sondern zu ihrem Werkzeug der Machterhaltung geworden ist. Die "repräsentative Demokratie" mit all ihren Einflusstoren von Lobbyisten ‒ sei es aus er Pharma-, Waffen- oder Finanzbranche ‒ ist dafür sicher das bekannteste Beispiel.
Die angebrochene Zeit der digitalisierten Gegenaufklärung im "Wertewesten" des 21. Jahrhunderts und ihre teilweise Realität gewordenen orwellschen Umkehrungen "Krieg ist Frieden!", "Freiheit ist Sklaverei!" oder "Unwissenheit ist Stärke!" haben diese Entwicklung auf einen neuen Höhepunkt gebracht, der sich mit der fortwährenden Zentralisierung aller gesellschaftlichen Aspekte, sei es auf staatlicher Seite (zum Beispiel die EU) oder auf der Ebene des Individuums ("Corona-Maßnahmen"), noch weiter beschleunigt.
Auf über 500 Seiten führt uns Mausfeld in untergegangene Zivilisationen vom Alten Ägypten bis zum Kaiserreich China und beleuchtet stets die Zirkel und Instrumente der jeweiligen Machthaber. Die bereits beschriebene "orwellsche Bedeutungsverschiebung" ist daher nicht ganz neu, ihre heutige Totalität gleicht jedoch einem "gezielten Angriff auf das menschliche Bewusstsein" mit dem Ziel, dass, wenn wir über "Demokratie" sprechen, wir de facto über "Nicht-Demokratie" reden als eine "Form der Elitenherrschaft" (S. 235). Ähnliches kennt man bereits aus früheren Werken des Psychologen, in dem Mausfeld konstatierte, dass der "Kampf gegen rechts" eigentlich ein "Kampf gegen links" ist. Das zeigt sich auch im Eingangszitat des neuen Buches. Dort zitiert Mausfeld den US-amerikanischen Schriftsteller Thomas Pynchon mit den Worten:
"Wenn sie dich dazu bringen können, die falschen Fragen zu stellen, müssen sie keine Angst vor den Antworten haben."
Die Rolle von Propaganda stellt also für den Machterhalt die zentrale Rolle dar, die "Methoden der Bewusstseinsmanipulation" (S. 21) sind laut Mausfeld im Laufe der Zeit immer ausgebuffter und raffinierter geworden. Mausfeld agiert wie so oft aus der Makroperspektive, schaut wie ein Adler von oben auf die Dinge. Der Gegensatz zwischen "Volk und Eliten" (S.50) zieht sich dabei wie ein roter Faden durch das Buch. Für Mausfeld ist Kapitalismus die "Macht des Stärkeren" (S. 274), die sich mit der originären Form der Demokratie nach Athener Lesart so gar nicht vertragen will.
Getreu dem alten Spiegel-Motto von Rudolf Augstein spricht Mausfeld aus, was ist. Er fordert auf, die Dinge zunächst einmal neu zu besprechen, neu zu denken, den Machtapparat zu analysieren, ehe man sich Illusionen wie "direkter Demokratie" hinwendet. Wer wirklich etwas ändern will, muss dafür sorgen, dass sich die gesellschaftliche Atmosphäre entgiftet. Dafür brauche es ein Umfeld, dass "frei und offen" (S. 469.) ist. Denn am wichtigsten sei es, "über die Gründe unseres Nicht-Handelns und die Gründe unseres Schweigens nachzudenken", wie der 83-Jährige resümiert. Da hat er Recht: Das neoliberale Hamsterrad aus immer stärker digitalisierter Arbeit samt "Bullshit-Jobs" (David Graeber) einerseits und sinnloser Bürokratie andererseits im von Megakonzernen gekaperten "starken Staat" gehört nicht nur hinterfragt, sondern abgeschafft.
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