eine Analyse von Susan Bonath
Längst schützen 40 Jahre Lohnarbeit in Deutschland nicht mehr vor Altersarmut. Das gilt nicht nur für jene, die erst seit Kurzem das Rentenalter überschritten haben oder es demnächst erreichen werden. Auch fast ein Viertel der Über-80-Jährigen kann sich ein auskömmliches Leben nicht mehr leisten. Das geht aus einer Studie der Universität Köln unter dem Titel "Hohes Alter in Deutschland" hervor, die das Bundesfamilienministerium in dieser Woche vorgestellt hat.
Demnach verfügten mehr als 22 Prozent der Hochbetagten über ein Monatseinkommen von unter 1.168 Euro, von der erwachsenen Gesamtbevölkerung betrifft dies Studien zufolge knapp 15 Prozent. Damit lebten zuletzt in etwa 1,3 Millionen Senioren über 80 Jahren unterhalb der für Deutschland festgelegten Armutsgefährdungsgrenze. Frauen dieses Alters waren davon weitaus häufiger betroffen als Männer. Bei ihnen lag die Armutsquote zuletzt bei über 26 Prozent, bei Männern bei knapp 17 Prozent.
Besonders viele arme Rentner in Bayern
Als trauriger Spitzenreiter in Sachen Altersarmut steht ausgerechnet das Bundesland da, das bei den Löhnen und Gehältern führend ist: Bayern. Das hatten mehrere Sozialverbände bereits am Mittwoch kritisiert. Die Zahlen stammen aus einer Datenanalyse des Bayerischen Rundfunks vom Oktober dieses Jahres und betreffen alle über 65-jährigen Rentner. Rund 21 Prozent von ihnen gelten dort demnach als arm – bei den Männern knapp 18, bei den Frauen fast 24 Prozent.
Das dürfte nicht nur mit den exorbitant hohen Lebenshaltungskosten vor allem in den städtischen Ballungsgebieten Bayerns zusammenhängen. Die höhere Altersarmutsquote bei Frauen ist schlicht geringeren Einkommen vor der Rente geschuldet. Demnach lag die durchschnittliche Rente von Männern im Freistaat zuletzt bei 1.265 Euro, die von Frauen nur bei mageren 765 Euro monatlich. In München dürften solche Summen nicht einmal für die Miete einer Einraumwohnung reichen.
Frauen: Geringere Löhne, mehr Teilzeitjobs, mickrige Renten
Die Einkommensspreizung zwischen den Geschlechtern ist in der Bundesrepublik weiterhin sehr groß. In Westdeutschland verdienten Frauen laut Statistischem Bundesamt im vergangenen Jahr rund 20 Prozent weniger als Männer, im Osten war die Lücke mit sechs Prozent sehr viel geringer.
Der Unterschied zwischen Ost und West hat strukturelle und politische Ursachen: Die DDR-Politik integrierte Frauen viel früher in die Lohnarbeit als die BRD, wo die traditionelle Rollenverteilung – damit die finanzielle Abhängigkeit der Frauen von ihren Ehemännern – länger als Leitmodell galt. Ferner: Kindererziehung ist im Kapitalismus ein kostenpflichtiges Privatvergnügen, auf das der Arbeitsmarkt keine Rücksicht nimmt.
Wie die SPD-nahe Hans-Böckler-Stiftung vor vier Jahren herausgefunden hatte, hatten Frauen 2012 und 2013 etwa 2,4-mal mehr Zeit in unbezahlte Familienfürsorge als Männer und leisteten etwa 60 Prozent mehr Hausarbeit. Die typischen Frauenbranchen sind darauf eingestellt. 2019 arbeiteten laut Statistischem Bundesamt rund zwei Drittel aller Mütter in Teilzeit, von den Familienvätern waren es sechs Prozent.
Unabhängig vom Familienstand stieg die Teilzeitquote bei beiden Geschlechtern seit Anfang der 1990er-Jahre rapide an. Daten der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) zufolge arbeiteten 1993 rund 2,4 Prozent der Männer und 32,2 Prozent der Frauen in Teilzeit. Vor drei Jahren, 2018, hatte dies bereits über elf Prozent der Männer und knapp die Hälfte der Frauen betroffen. Zusätzlich zahlen Branchen, in denen viele Frauen arbeiten – also klassische Frauenberufe wie der Einzelhandel, das Friseurhandwerk oder die Sozialarbeit –, im Schnitt geringere Löhne und Gehälter als Männerdomänen. Laut Böckler-Stiftung "ist das rein ökonomisch nicht zu erklären".
Das Ergebnis ist wachsende Altersarmut, die nach wie vor zuvorderst die weibliche Bevölkerung betrifft. Dass sich dieses Problem in Deutschland weiter verschärfen würde, sah vor zwei Jahren die Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) voraus. Demnach bezogen Seniorinnen 2019 durchschnittlich 46 Prozent weniger Rente als über 65-jährige Männer. Diese Diskrepanz zwischen den Geschlechtern sei in keinem anderen europäischen Industrieland so groß wie in der Bundesrepublik, so das Fazit der OECD.
Systematische Rentenkürzungen
Die Politik treibt die Verarmung der Rentner in der Bundesrepublik seit Anfang der 2000er-Jahre systematisch voran. 2007 hatte die damalige schwarz-rote Regierung unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) eine schrittweise Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre auf den Weg gebracht. Derzeit wird diese Rentenkürzung durch die Hintertür noch bis 2029 umgesetzt.
2014 versuchte die Große Koalition, die dadurch drohende Verschärfung der Altersarmut mit der "Flexi-Rente" etwas abzumildern. Doch nur, wer mindestens 45 Jahre in die Rentenversicherung eingezahlt hat – wer zwischendurch auf Hartz IV angewiesen war, fällt in aller Regel raus –, kann abschlagsfrei mit 63 Jahren in den Ruhestand gehen. Frauen schaffen das aufgrund von Familienarbeit und Kindererziehung seltener.
Ampel ohne Lösungen
Zwar ist der neuen Ampel-Regierungskoalition aus SPD, FDP und Grünen das Problem bewusst. Allerdings halten sich ihre Lösungsvorschläge in Grenzen. Sie will zum Beispiel das übrig gebliebene magere Rentenniveau von 48 Prozent vorerst festschreiben und die betriebliche Altersversorgung stärken – ganz kapitalkonform durch die Erlaubnis von Anlagemöglichkeiten mit höheren Renditen.
Für jene, die eine Soloselbständigkeit beginnen wollen, könnte es schwieriger werden: Für sie gilt bald die Pflicht, monatliche Beiträge für die Altersvorsorge zu zahlen, was viele sich aufgrund geringer Einkünfte schier nicht leisten können. Obendrein gibt es für alle Neurentner ab 2022 eine bittere Pille: Sie müssen mehr an den Staat abdrücken. Ihr steuerpflichtiger Rentenanteil steigt nämlich von 81 auf 82 Prozent. Ein Rückgang der Altersarmut ist also nicht zu erwarten.
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