"Wir sehen zwei ausgeprägte Gruppen mit entgegengesetzten Positionen, die wir 'Verteidiger' und 'Entdecker' nennen", sagte der Psychologe Prof. Dr. Mitja Back, Sprecher des interdisziplinären Forscherteams, das die bisher umfassendste Erhebung zu Identitätskonflikten in Europa vorgenommen hat. Back weiter:
"Wer gehört zu unserem Land, wer bedroht wen, wer ist benachteiligt? Über alle Identitätsfragen dieser Art hinweg zeigen die ersten Auswertungen der Erhebung eine neue Konfliktlinie zwischen den beiden Gruppen, die fast spiegelbildliche Meinungen zeigen. In Identitätsdebatten haben sich die Meinungen zu scheinbar unvereinbaren Konfliktpositionen verhärtet. Die Studie könnte hier neue Wege eröffnen."
Die beiden Lager stellen in allen Ländern zusammen einen nennenswerten Bevölkerungsanteil dar, in Deutschland sind es mehr als ein Drittel, in Polen beinahe Dreiviertel. Das verteilt sich in Staaten wie Deutschland auf 20 Prozent "Verteidiger" und 14 Prozent "Entdecker", in Frankreich und Schweden auf 14 Prozent bzw. 29 Prozent "Verteidiger" sowie 11 Prozent bzw. 15 Prozent "Entdecker". In Polen, das "Verteidiger"-Meinungen den Forschern zufolge "populistisch stützt", liegt der Anteil beider Gruppen zusammen bei 72 Prozent. "Das zeigt, wie weit der Konflikt in einem Land gehen kann: Die polarisierten Positionen können sich zur Mehrheit ausweiten", so Back weiter. Und er ergänzt:
"Wie stark sich eine Bevölkerung polarisiert und wie sehr Bedrohungsgefühle und enge Identitätsideen auch Benachteiligungsgefühle und Misstrauen nach sich ziehen, variiert also je nach politischem System. Das legt bereits nahe, dass sich Identitätskonflikte politisch beeinflussen lassen."
Was bedeuten "Entdecker" und "Verteidiger"?
An der Umfrage beteiligten sich 5.011 Menschen aus Deutschland, Frankreich, Polen und Schweden. Autoren sind die Soziologen Prof. Dr. Detlef Pollack und Dr. Olaf Müller, die Psychologen Prof. Dr. Mitja Back und Prof. Dr. Gerald Echterhoff und der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Bernd Schlipphak. Erste Ergebnisse liefert ihr Arbeitsbericht "Von Verteidigern und Entdeckern: Ein Identitätskonflikt um Zugehörigkeit und Bedrohung". Aus den Detailergebnissen zu mehr als 20 untersuchten Fragen bildeten sie in Clusteranalysen Gruppen, deren Mitglieder sehr ähnliche Haltungen zeigen und die als Gruppen wiederum starke Unterschiede untereinander aufweisen. Das ergab über alle Fragen hinweg das Muster "Entdecker" und "Verteidiger".
Die Gruppe der "Verteidiger" vertritt danach mehrheitlich folgende Haltungen: Sie steht in allen Ländern für ein enges Konzept der Zugehörigkeit zum eigenen Land, wonach nur dazugehört, wer im Land geboren wurde, Vorfahren der ethnisch-nationalen Mehrheit hat und/oder der dominanten Religion angehört. Sie verteidigt somit traditionelle Kriterien wie ethnische und religiöse Homogenität. Zugleich fühlen sich "Verteidiger" durch Fremde wie Muslime und Geflüchtete bedroht sowie selbst benachteiligt. Sie sind unzufriedener mit der Demokratie und misstrauischer gegenüber politischen Institutionen.
Die Gruppe der "Entdecker" hingegen lehnt ein enges Konzept von Zugehörigkeit nach ethnisch-religiösen Kriterien ab. Mitglieder dieser Gruppe fühlen sich nicht durch Fremde bedroht. Vielmehr entdecken sie Zuwanderung und wachsende Vielfalt als Chance und plädieren für eine Gesellschaft mit vielen gleichberechtigten Lebenskonzepten. Sie sehen sich gut repräsentiert, sind zufriedener mit der Demokratie und vertrauen eher den politischen Institutionen. In Polen jedoch, in dem die Regierung Positionen der "Verteidiger" nach ethnisch-religiöser Homogenität und Schutz vor Fremden "populistisch" unterstützt, fühlen sich auch die "Entdecker" benachteiligt und sind unzufrieden mit der Demokratie und Regierung.
Auch in kultureller, religiöser, psychologischer und sozialer Hinsicht unterscheiden sich die Gruppen stark. In allen Ländern sind "Verteidiger" weit heimatverbundener und religiöser als "Entdecker". Erstere zeigen zudem eine stärkere Präferenz für gesellschaftliche Hierarchien und weniger Vertrauen in andere Menschen, letztere umgekehrt. Auch sind "Entdecker" eher recht jung, hoch gebildet, sie wohnen eher in der Stadt und sind eher nicht von sozioökonomischer Not betroffen. "Verteidiger" finden sich eher als "Entdecker" unter den Älteren und niedrig Gebildeten, außer in Polen. Sie wohnen eher ländlich und haben nach eigener Aussage, außer in Polen, einen niedrigeren sozialen Status.
Wie die Spaltung überwinden?
Zugleich hat der kulturelle Konflikt starke politische Effekte: "Verteidiger" bevorzugen laut der Studie "populistische Parteien" und sprechen sich deutlich eher für das Konzept eines "starken Führers" aus, sie neigen auch zu Verschwörungstheorien und sprechen sich für Elemente einer direkten Demokratie aus. "Entdecker" vertreten spiegelbildliche Meinungen. Die Wahrscheinlichkeit für die Wahl einer populistischen Partei liegt bei "Verteidigern" etwa in Deutschland bei 26 Prozent und in Polen bei 57 Prozent, während "Entdecker" dazu nicht neigen.
Dahinter können den Forschern zufolge grundlegend unterschiedliche Konzepte von Politik stehen: "Verteidiger" bevorzugen Konzepte, die eher antipluralistischen Vorstellungen entsprechen, nach denen politische Regelungen einen einzigen Volkswillen ausdrücken sollen. "Entdecker" dagegen teilen Einstellungen, die eher mit pluralistischeren Ideen vereinbar sind, nach denen Politik ein Aushandlungsprozess und Kompromiss zwischen unterschiedlichen Interessen ist. Dazu Back:
"Die Positionierung im Konflikt als 'Entdecker' oder 'Verteidiger' kann sich stark auf die gewünschte Demokratieform auswirken. Die kulturellen Konflikte um Identität haben sich also politisch sehr verfestigt und strukturieren nun maßgeblich gesellschaftliche und politische Ansichten der Bevölkerung."
Indem die Forscher ihre Ergebnisse mit weiteren Erkenntnissen aus der aktuellen Forschung verknüpfen, sehen sie die polarisierten Positionen in unterschiedlich ausgeprägten und eher stabil bleibenden psychologischen Grundbedürfnissen wie Sicherheit und Stabilität ("Verteidiger") sowie Offenheit und Veränderung ("Entdecker") begründet. Entsprechend setzen sich Gesellschaften immer aus einer Mischung von "Entdeckern" und "Verteidigern" zusammen, heißt es im Report. Der Identitätskonflikt sei daher – im Gegensatz zu eher materiell basierten Konflikten – schwerer verhandelbar, erst recht, wenn Identitätsvorstellungen religiös oder fundamentalistisch gerahmt würden. Verfestigt werde der Identitätskonflikt auch durch Globalisierungseffekte wie Migration, zunehmend supranationale statt nationale Politiken und Krisen wie die Finanzkrise oder die COVID-19-Pandemie. "Da stellen sich Identitätsfragen, wer zum Land gehört oder Bedrohungsgefühle auslöst, umso dringlicher", so Back.
Der Politik empfehlen die Forscher daher, sich nicht auf eine Seite der polarisierten Positionen zu schlagen. Weder in "liberalen Demokratien" noch in "autoritär geführten Ländern" habe das zum Ziel geführt, Bewegung in verkrustete Konflikte zu bringen, da sich immer mindestens eine Gruppe ausgegrenzt fühle. Vielmehr gelte es, die zugrundeliegenden psychologischen Bedürfnisse auf beiden Seiten ernst zu nehmen und als gesellschaftliche Ressourcen zu begreifen, dabei aber die teils weit auseinanderliegenden Forderungen beider Gruppen je auf den funktionalen Kern zurückzuführen. Back: "So lässt sich herausfiltern, welche Positionen für jede Gruppe nicht aufgebbar sind und welche verhandelbar. Nur so lässt sich eine Grundlage für Kompromisse finden, die derzeit noch unmöglich erscheinen, sowie Raum für einen Dialog ohne Abwertung."
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(rt de/pressemitteilung uni münster)