Länder wie Deutschland befinden sich ein Jahr nach dem Beginn der Corona-Krise immer noch – oder schon wieder – im Lockdown, doch allmählich wächst der Widerstand gegen die Corona-Politik der Bundesregierung. Nicht nur die Proteste der "Querdenken"-Bewegung oder die Initiative von bekannten Schauspielern #allesdichtmachen, auch Wissenschaftler äußern zunehmend Zweifel an der Sinnhaftigkeit von Lockdowns.
Jüngstes Beispiel dafür ist der kanadische Ökonom Douglas Allen, der in einer Analyse mit dem Titel "COVID Lockdown: Kosten und Nutzen. Eine kritische Bewertung der Literatur" feststellte: Lockdowns hätten bestenfalls einen geringfügigen Einfluss auf die Anzahl an Todesfällen im Zusammenhang mit COVID-19. Die positiven Effekte eines Lockdowns werden seiner Meinung nach überschätzt, während die Folgeschäden für die Wirtschaft und Gesellschaft oft ausgeblendet werden. In seiner Arbeit wertete er 80 wissenschaftliche Studien aus und kam zu dem Ergebnis, dass zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten zur Wirkung von Corona-Maßnahmen auf falschen Annahmen beruhen, da sie viele wichtige Faktoren wie das Verhalten der Menschen nicht berücksichtigen.
Auch Michael Hüther, der Direktor des Institutes der Deutschen Wirtschaft in Köln, räumte gegenüber der Welt ein, dass es zwar schwierig sei, diesen Effekt zu berechnen, dennoch sei er enorm wichtig für die Prognosen. Dies decke sich auch mit den Erfahrungen in Deutschland aus dem letzten Frühjahr, in dem die sogenannte Reproduktionszahl, die ein Maßstab für die Verbreitungsrate des Virus ist, bereits sank, bevor der Lockdown verhängt wurde.
Grund dafür dürften die von den Mainstream-Medien verbreiteten Bilder aus dem italienischen Bergamo sein, die laut Hüther dazu geführt haben dürften, dass sich die Deutschen schon vor dem Lockdown zurückzogen, um sich vor mutmaßlichen Infektionen zu schützen. In vielen Modellen würden die Wissenschaftler laut Allen aber davon ausgehen, dass die Menschen weiterhin so agieren wie bisher. Dadurch würden die Todeszahlen ohne ein staatliches Ergreifen überschätzt und Lockdowns erschienen "alternativlos". Auch andere Parameter wie die Reproduktionszahlen oder die Hospitalisierungsrate wurden in vielen Modellen als zu hoch angesetzt. Allen zufolge seien Lockdowns auch nur dann wirksam, wenn die Bevölkerung sich freiwillig an die Maßnahmen halte.
In vielen Berechnungen würden aber zugleich die Kosten eines Lockdowns und die "Kollateralschäden" unterschätzt. Die Auswirkungen von Schulschließungen und gesellschaftliche sowie soziale Probleme würden in vielen Berechnungen ausgeblendet. Es gebe jedoch deutliche Hinweise, wie drastisch die Folgen von unerwarteter Arbeitslosigkeit auf die Lebenserwartung und Sterblichkeit der Betroffenen seien. Dasselbe gelte auch für psychisch Erkrankte, deren Situation sich durch den Lockdown verschlechtert habe. Deswegen müsse man Hüther zufolge stärker abwägen zwischen der Gefahr durch das Virus und ökonomischen sowie gesellschaftlichen Beeinträchtigungen:
"Der Befund darüber, welche Strategie besser war, wird ohnehin erst nach Jahren möglich sein", sagte Hüther.
Statt eines pauschalen Lockdowns wären somit eher gezielte Maßnahmen wünschenswert, mit denen man besonders gefährdete Gruppen schützen kann. Erstaunlich an Hüthers Einschätzung ist jedoch auch die Tatsache, dass er zu den Autoren von Seehofers "Panikpapier" aus dem März 2020 gehörte, in dem bekanntermaßen ein "Worst Case"-Szenario für die Corona-Krise erarbeitet werden sollte, um "Maßnahmen präventiver und repressiver Natur planen zu können". Im Laufe der Corona-Krise äußerte Hüther jedoch zunehmend Kritik an der Corona-Politik der Bundesregierung.
Wie der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Straubhaar gegenüber der Welt erklärte, würden die Modelle zudem immer wieder die Anpassungsfähigkeit der Menschen unterschätzen. Zu Beginn der Corona-Krise wurde beispielsweise unterschätzt, dass sich viele Menschen selbst schützen, Abstand halten und Masken tragen. Doch auch die Effekte der staatlichen Einschränkungen würden überschätzt:
"Ökonomen gehen in ihren Modellen davon aus, dass sich die Menschen an die Regeln halten. Doch nach einem Jahr Krise ist die Bereitschaft dazu in der Bevölkerung gesunken. Die Menschen machen nicht mehr mit, einige der Maßnahmen haben wenig bis gar keinen Effekt, andere – wie Ausgangssperren – vielleicht sogar ungewünschte."
Mehr zum Thema - Epidemiologe Ioannidis: Ein harter Lockdown kann die Situation sogar verschlimmern