Die Querdenker sind von ihrem Ursprung her keine rechte Bewegung ungebildeter Massen. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie des Basler Soziologen Oliver Nachtwey mit dem Titel "Politische Soziologie der Corona-Proteste", deren Hauptaussagen am 4. Dezember in der FAZ veröffentlicht wurden.
"Es ist eine Bewegung, die mehr von links kommt, aber stärker nach rechts geht, sie ist jedoch enorm widersprüchlich."
Von ihrer Sozialstruktur "handelt es sich um eine relativ alte und relativ akademische Bewegung": "Das Durchschnittsalter beträgt 47 Jahre, 31 Prozent haben Abitur, 34 Prozent einen Studienabschuss, der Anteil Selbständiger ist deutlich höher als in der Gesamtbevölkerung."
Für die Untersuchung wurden Fragebögen-Befragungen von 1.150 Teilnehmern in Querdenker-Telegram-Gruppen durchgeführt. Die Studie erhebt keinen Anspruch auf Repräsentativität. Zusätzlich wurden als Methoden ethnografische Beobachtungen auf Protestaktionen der Querdenker-Bewegung sowie Dokumentenanalysen eingesetzt.
Für eine Einschätzung der politischen Positionierung wurden die Teilnehmer nach ihrem Wahlverhalten befragt. Von den Teilnehmern haben bei der letzten Bundestagswahl
- 21 Prozent die Grünen gewählt
- 17 Prozent die Linke gewählt
- 14 Prozent die AfD gewählt
Die Bewegung nach rechts zeige sich daran, dass "bei der nächsten Bundestagswahl [...] nun aber 30 Prozent der AfD ihre Stimme geben" wollen.
Verbindung nach rechts?
Charakteristisch für Querdenken sei eine "Entfremdung von den Institutionen des politischen Systems, den etablierten Medien und den alten Volksparteien". Daraus ergebe sich aber nicht von selbst ein rechtes oder rassistisches Gedankengut. Dies haben die Forscher explizit abgefragt. Den meisten "klassisch rechtsautoritären oder rechtspopulistischen Einstellungen" stimmten die Befragten nicht zu. Fremden- und Islamfeindlichkeit seien nur schwach ausgeprägt. Und insgesamt wurde der Nationalsozialismus "seltener verharmlost als in der Gesamtbevölkerung".
Eine Mehrheit der Befragten bestritt, dass in Deutschland auf Minderheiten zu viel Rücksicht genommen werde. Religion und Kirchen spielten kaum eine Rolle. Allerdings fanden die Forscher laut der FAZ Anzeichen von "zumindest verdeckt antisemitischer Stereotype".
Querdenken sei mehrheitlich eine autoritätsskeptische Bewegung: 64 Prozent der Befragten gaben an, man müsse Kindern nicht beibringen, auf Autoritäten zu hören.
"Die Querdenker betrachten sich selbst als erwacht gegenüber den ungläubigen sogenannten Schlafschafen. Man will der verwalteten und der als technokratisch empfundenen Welt einen Sinn geben, es gibt eine Skepsis gegenüber dem hypermodernen Industrialismus."
Naturverbundenheit und Skeptizismus
Die Befragung habe ergeben, dass es einen "ausgesprochenen Hang zur Naturromantik" gebe: 41 Prozent der Befragten vertrauten ihren "Gefühlen mehr als Institutionen und Experten". Es gebe einen starken Wunsch, "Schulmedizin und alternative Heilmethoden gleich zu behandeln". "Typisch" seien auch "der Glaube an die Selbstheilungskräfte des Körpers und das Verlangen nach spirituellem Denken".
Die Anhänger der Querdenker-Bewegung stehen insbesondere in der Frage der "Pandemie-Politik" von Institutionen gelieferten wissenschaftlichen Erkenntnissen skeptisch gegenüber. Es gebe eine "Hermeneutik des Verdachts" verbunden mit "subversivem Gegenwissen".
"Sie warnen vor einer globalen Zwangsimpfung, halten aber Studien über den Klimawandel nicht für manipuliert. Weil Basel der Sitz vieler Pharmakonzerne ist, es hier eine Reihe von Stiftungsprofessuren gibt, ziehen sie die Objektivität aller Forscher in Zweifel."
Perspektiven für die Politik
Aufgrund der regierungs- und autoritätsskeptischen Haltung sehen die Forscher um Nachtwey wenig Perspektiven, die Querdenker-Bewegung mit einer "auktorialen Sprache" – mit Dekreten von oben herab – oder mit wissenschaftlichen Erkenntnissen allein zu überzeugen. Nach ihrer Einschätzung kommt vor allem den Grünen eine Schlüsselrolle zu bei der Suche nach politischen Brücken zur Querdenker-Bewegung. Ein großer Teil dieser Bewegung entstamme dem Grünen-Wählerpotenzial.
"Die Professionalisierung der Grünen, ihre langjährige Regierungstätigkeit hat auch dazu geführt, dass ein Teil des grünen Milieus sich von dieser Partei nicht mehr repräsentiert fühlt. Vor allem ist das der anthroposophisch-esoterische Teil des grünen Milieus, Menschen also, die der modernen Industriegesellschaft und der Wissenschaftsgläubigkeit kritisch gegenüberstehen."
Die Forscher warnen vor weitreichenden Folgen, wenn kein gemeinsamer Dialog gefunden werde – insbesondere "wenn aus der Bewegung der Pandemie-Maßnahmen-Kritiker eine wortmächtige Bewegung von Impfkritikern werden sollte".
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