von Susan Bonath
Manche Kollateralschäden der Corona-Politik entstehen weitgehend abseits gutbürgerlicher Wahrnehmung. Wie verkraften Jugendliche und junge Erwachsene aus prekären Verhältnissen das Ganze? Noch nie hat sich die Bundesregierung besonders um sie bemüht. Im Jahr 2016 lebten laut einer Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) in der Bundesrepublik fast 40.000 unter 25-Jährige auf der Straße, jeder Fünfte davon war minderjährig. Die Stiftung Off Road Kids, die Betroffenen hilft, teilte nun mit, diese Zahlen könnten sich in diesem Jahr massiv erhöht haben.
Seit Januar habe sich der Zulauf Hilfesuchender bei den Streetwork-Stationen und auf Online-Plattformen der Stiftung, wie etwa sofahopper.de, rasant erhöht, erklärte der Vorstandssprecher von Off Road Kids, Markus Seidel, am Mittwoch. Bis Ende Oktober wandten sich demnach mehr als 2.000 Betroffene zwischen 14 und 27 Jahren an seine Stiftung. "Das sind doppelt so viele wie im vergleichbaren Vorjahreszeitraum", sagte er.
In den ersten Monaten nach Verhängung der ersten Maßnahmen im März ersuchten sogar vier Mal so viele wie sonst um Unterstützung. "Sie alle sind von verdeckter oder tatsächlicher Obdachlosigkeit bedroht", erläuterte er.
Armut und Zukunftsangst
Seidel vermutet als Hauptgrund vor allem Stress und Streit, insbesondere in ärmeren Familien. In den Lockdown-Phasen hockten sie in kleinen Wohnungen auf engstem Raum zusammen, finanzielle Probleme und Zukunftsängste kämen jetzt vermehrt hinzu. Häufig hätten sich vorher schon schwierige Beziehungen verschlechtert, der Streit habe sich zugespitzt. Viele Betroffene seien hinausgeworfen worden oder selbst von zu Hause geflüchtet. Häufiger als vor der COVID-19-Pandemie landeten sie dann direkt auf der Straße, so Seidel. "Die durch Corona bedingte Häuslichkeit hat die Bereitschaft im Bekanntenkreis der Jugendlichen massiv gesenkt, Schlafplätze und Hilfe anzubieten", mahnte der Stiftungssprecher. Als großes Problem sieht er die Bürokratie, in der sich die meisten kaum zurecht fänden und letztlich an zu hohen Hürden scheiterten.
Um die Gefahr einzudämmen, dass betroffene Jugendliche schnell tief abrutschen, habe die Organisation inzwischen die Sozialarbeiter der Streetwork-Stationen in Berlin, Dortmund, Frankfurt, Hamburg und Köln auch in die Onlineberatung mit einbezogen. Dort könnten erste Kontakte über Live-Chats, Telefonberatung und inzwischen über ein Videokonferenzsystem geknüpft werden, teilte die Stiftung mit. Auf dem Youtube-Kanal sofahopper.de erläutern Sozialarbeiter und Betroffene ebenfalls, was bei Wohnungslosigkeit, Mietschulden und anderen Problemen zu tun ist, wie man mit dem Jugendamt umgeht oder an sein Kindergeld kommt, das den meisten Betroffenen zusteht.
Behörden verschärfen oft die Not
Die COVID-19-Pandemie spült allerdings auch vieles an die Oberfläche, das nicht neu ist. Der Autorin sind im Laufe der vergangenen Jahre zahlreiche Fälle bekannt geworden, in denen Jugendämter sich für über 18-Jährige nicht mehr zuständig fühlten, obwohl die Betroffenen Anspruch auf Hilfe gehabt hätten. Bei Hilfeanträgen verlangten Jobcenter häufig Unterlagen, welche die jungen Menschen gar nicht beibringen konnten. Die Hilfen blieben teils monatelang aus. In anderen Fällen schoben sich Jobcenter, Sozialamt und Jugendamt die Zuständigkeiten gegenseitig zu.
Insgesamt stellt die Politik der Corona-Maßnahmen Wohnungslose vor immense Probleme. Am Wochenende kritisierte die Berliner Stadtmission, es gebe viel zu wenige Aufwärmmöglichkeiten für Menschen ohne Dach über dem Kopf. In den Noteinrichtungen dürfen sie in aller Regel nur übernachten und müssen frühmorgens das Gebäude verlassen.
Zwar funktioniere in der Hauptstadt die mobile Kältehilfe. Aber sämtliche Sozialleistungen, wie Kleider- oder Essensausgaben, müssten wegen der Abstandsregeln draußen erfolgen, sagte Missionssprecherin Barbara Breuer dem RBB. Die Caritas dürfte ihre Wärmestuben gar nicht mehr öffnen. Auch in den anderen Bundesländern arbeiten Einrichtungen für Obdachlose nur noch eingeschränkt, teils gibt es weniger Plätze für Notübernachtungen. Immer wieder berichteten in den vergangenen Wochen Medien, dass einige Kommunen mit drastischen Mitteln gegen Betroffene vorgehen.
Laut Diakonie verhängte etwa die Stadt Karlsruhe drakonische Bußgelder gegen Obdachlose, weil sie gegen Abstandsregeln an ihren Übernachtungsplätzen oder in Einrichtungen verstoßen hätten. Gegenüber den Badischen Neuesten Nachrichten sprach Sozialarbeiter Uwe Enderle eines dortigen Tagestreffs Mitte November von Summen bis zu einem vierstelligen Euro-Betrag. "Menschen kommen zu uns, die deswegen mit mehreren Tausend Euro in der Kreide stehen", kritisierte er.
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