In der Corona-Krise werden die von den Regierungen beschlossenen einschneidenden Maßnahmen oft damit begründet, dass man auf "die Wissenschaft" höre, um die mutmaßliche Pandemie wieder unter Kontrolle zu bringen. Doch dieses Narrativ scheint langsam zu bröckeln: Kamran Abbasi, Arzt und Chefredakteur der renommierten britischen Fachzeitschrift Britisch Medical Journal (BMJ), hat nun in einem Artikel erläutert, dass die Beziehungen zwischen Politik und Wissenschaft in Wirklichkeit anders aussehen.
In einem Beitrag mit dem Titel "When good science is suppressed by the medical-political complex, people die" (auf Deutsch: Wenn gute Wissenschaft durch den medizinisch-politischen Komplex unterdrückt wird, sterben Leute) kritisierte er die zunehmende Instrumentalisierung der Wissenschaft in der Corona-Krise.
Abbasi zufolge "unterdrücken Politiker und Regierungen die Wissenschaft". Wie der Mediziner erläutert, behaupten sie, dies im öffentlichen Interesse zu tun, um die Verfügbarkeit von Diagnosen und Behandlungen zu beschleunigen. Angeblich tun sie dies auch, um Innovationen zu unterstützen. Dies mag zwar teilweise richtig sein, aber das "zugrunde liegende Verhalten ist beunruhigend", erklärt der Mediziner, denn die Wissenschaft werde aus politischen und finanziellen Gründen unterdrückt. Die Corona-Krise habe deutlich gemacht, wie der "medizinisch-politische Komplex" in einer Notsituation manipuliert werden kann.
Die Intransparenz der wissenschaftlichen Beratergremien
Zur Erläuterung dieser Manipulation führt Abbasi einige Beispiele an, bei denen die britische Regierung in der Corona-Krise Einfluss auf den Wissenschaftssektor nahm:
Betroffen war zum Beispiel das Scientific Advisory Group for Emergencies (SAGE), ein Beratungsgremium der britischen Regierung für Katastrophenfälle, das sich aus Wissenschaftlern und Spezialisten aus der Industrie zusammensetzt. Die Zusammensetzung, die Beratungen und die wissenschaftlichen Ergebnisse des Gremiums wurden zu Beginn der Corona-Krise jedoch geheim gehalten. Erst durch vom Guardian geleakte Informationen wurde die Zusammensetzung bekannt und erzwang mehr Transparenz. Weiterhin gab es eine mindestens fragwürdige Beteiligung von Regierungsmitgliedern im SAGE, während Vertreter des öffentlichen Gesundheitswesens unterrepräsentiert waren.
Ein weiterer Vorfall, den der Redakteur schildert, ist die Verzögerung eines Berichts über die Corona-Lage durch das Gesundheitsministerium. Ein Abschnitt des Berichts über ethnische Minderheiten sollte zunächst sogar zurückgehalten werden. Auch der Herausgeber der renommierten medizinischen Fachzeitschrift The Lancet, Richard Horton,beschwerte sich über den "Maulkorb", den einige Wissenschaftler bekommen hätten:
Wissenschaftler der britischen Regierung werden daran gehindert, mit den Medien aufgrund der sogenannten 'schwierigen politischen Lage' zu sprechen. Dem Mitarbeiter einer Forschungsarbeit, die wir heute Abend veröffentlichen, wurde heute Morgen verboten, mit einem Journalisten zu sprechen. Willkommen im totalitären Staat Großbritannien.
Kritisch zu sehen ist Abbasi zufolge auch die von Großbritanniens Premierminister angekündigte "Operation Moonshot", die auf den massenhaften Einsatz von Schnelltests setzt und damit der Teststrategie Bayerns ähnelt. Allerdings folgen diese Tests dem Mediziner zufolge einer fragwürdigen Logik, da sie "mit einem suboptimalen PCR-Test erprobt wurden".
Auch bei den neuen Antikörpertests, die die Regierung beschaffte, stellten Forscher der Gesundheitsbehörde Englands PHE fest, dass die Genauigkeit der Tests weit hinter den Herstellerangaben zurückblieb. Bevor sich die Regierung zum Kauf von einer Million dieser Tests entschied, wollten die Forscher ihre Studienergebnisse veröffentlichen. Allerdings wurde dies vom Gesundheitsministerium und dem Büro des Premierministers blockiert. Nach Aussage Abbasis war es mehr als fragwürdig, sich diese Tests ohne angemessene Prüfung zu beschaffen.
Wissenschaft ist selten absolut
Im Artikel erläutert er weiterhin, dass Politiker oft behaupten, der Wissenschaft zu folgen, aber dies sei nur eine Vereinfachung, die zudem irreführend sei. Es mache keinen Sinn, der Wissenschaft oder Beweisen sklavisch zu folgen:
Wissenschaft ist selten absolut. Sie gilt selten für jedes Umfeld oder jede Bevölkerung.
Es wäre klüger, wenn sich öffentliche Entscheidungsträger von Wissenschaftlern informieren ließen, bevor sie sich für politische Maßnahmen entscheiden, so Abbasi. Aber selbst dieser Ansatz funktioniere nur dann, wenn die Wissenschaft frei von politischer Einflussnahme ist, nicht durch Interessenkonflikte beeinträchtigt wird und das System transparent ist.
Die "Unterdrückung der Wissenschaft" sei aber kein typisch britisches Phänomen: Als Beispiel führt Abbasi die USA an, in der die Regierung unter US-Präsident Trump die Arzneimittelbehörde FDA dazu drängte, nicht zugelassene Medikamente wie Hydroxychloroquin und Remdesivir voreilig zuzulassen.
Als Lösung für die problematische Lage schlägt der Redakteur eine vollkommene Transparenz für zukünftige Entscheidungen vor, denn die Reaktion des Landes auf die Pandemie stütze sich zu sehr auf Wissenschaftler und andere von der Regierung ernannte Personen mit beunruhigenden konkurrierenden Interessen, wie der Beteiligungen an Unternehmen, die diagnostische Tests, Behandlungen und Impfstoffe für COVID-19 herstellen.
Es wäre das Mindeste, dass Personen mit Interessenkonflikten nicht an Entscheidungen über Produkte und Maßnahmen beteiligt werden dürfen, an denen sie ein finanzielles Interesse haben, fordert Abbasi. Außerdem müsse sich die Kommunikation der Entscheidungsträger dringend verbessern:
Die Regierungen und die Industrie müssen auch aufhören, kritische Wissenschaftspolitik per Pressemitteilung anzukündigen. Solche schlecht durchdachten Maßnahmen machen die Wissenschaft, die Medien und die Aktienmärkte anfällig für Manipulationen", schreibt Abbasi.
Er räumt ein, dass für Politiker viel auf dem Spiel stehe, da "ihre Karriere und ihr Bankguthaben" von den Entscheidungen abhänge, allerdings trügen sie auch eine größere Verantwortung. Es sei wichtig zu erkennen, dass die derzeitige Einflussnahme durch die Unterdrückung und Verzögerung von Veröffentlichungen, das Herauspicken scheinbar günstiger Forschungsergebnisse und "Maulkörbe" für Wissenschaftler eine große Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellen. Diese Tendenzen sind dem Mediziner zufolge sehr beunruhigend:
Die Politisierung der Wissenschaft wurde von einigen der schlimmsten Autokraten und Diktatoren der Geschichte enthusiastisch betrieben und ist heute in Demokratien bedauerlicherweise alltäglich. Der medizinisch-politische Komplex tendiert zur Unterdrückung der Wissenschaft, um die Machthaber zu bereichern und ihr Ansehen zu steigern. Und während die Mächtigen immer erfolgreicher und reicher werden und sich weiter von der Macht berauschen, werden die unbequemen Wahrheiten der Wissenschaft unterdrückt. Wenn gute Wissenschaft unterdrückt wird, sterben Menschen.
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