Autor Milosz Matuschek: "Cancel Culture" führt in die intellektuelle Ödnis

"Einen Sieg der Gesinnung über rationale Urteilsfähigkeit" – das beklagen die Autoren des "Appells für freie Debattenräume". Zur Schau gestellte Haltung und richtige Moral zählten mehr als Argumente. RT Deutsch sprach mit Milosz Matuschek, einem der Initiatoren des Appells.

Der Journalist Milosz Matuschek und der Schriftsteller Gunnar Kaiser haben gemeinsam einen "Appell für freie Debattenräume" verfasst, in dem sie den Niedergang der Debattenkultur in Deutschland beklagen und dazu auffordern, das freie Denken aus dem Würgegriff der politischen Korrektheit zu befreien. Zu den Erstunterzeichnern gehören so unterschiedliche Persönlichkeiten wie der Journalist Harald Martenstein, der Historiker Götz Aly, der Publizist Albrecht Müller, der Arzt Sucharit Bhakdi und der Schriftsteller Günter Wallraff. Im Interview mit RT Deutsch erklärte Matuschek, was ihn zu dem Appell bewog und welche Ziele er und seine Mitstreiter mit dem Aufruf verfolgen.

Was hat Sie bewegt, diesen Appell zu verfassen?

Wir reden seit diesem Sommer von "Cancel Culture". Das Problem ist aber älter, egal welchen Namen es trägt, ob nun Political Correctness, Deplatforming oder eben "Cancel Culture". Es ist in den letzten Jahren schwieriger geworden, Seminare und Kulturveranstaltungen abzuhalten, wenn dort Menschen auftreten, die als kontrovers eingestuft werden, egal ob das stimmt oder nicht. Es wird niedergebrüllt statt diskutiert. Kontroverse Gespräche sollen aber in einer Demokratie die Norm sein, nicht die Ausnahme.

Das gilt im übrigen besonders für regierungskritische Aussagen. Wir haben bei den meisten wichtigen Themen einen verengten Debattenraum in den Mainstream-Medien, egal ob bei der Klimapolitik, in der Migrationsfrage oder jetzt bei COVID. Als nun auch Dieter Nuhr und Lisa Eckhart ins Visier gerieten, war für den Youtuber Gunnar Kaiser und mich eine Grenze erreicht. Wir wollen keine amerikanischen Verhältnisse in Europa, wo sich an manchen Universitäten die Lautstarken gegen die Rationalen durchgesetzt haben.

Der Appell ist ein Ruf zur Tagesordnung, um die bewährten Standards der freien Rede wieder herzustellen. Die Qualität einer Demokratie bemisst sich danach, dass es einen Streit in der Sache gibt, und nicht manche mit Diffamation und Denunziation aus dem Diskurs ausgeschlossen oder gecancelt werden. Wir wollen nicht zusehen, wie die Werte der Aufklärung über Bord geworfen werden. Die enorme Resonanz für unser Anliegen gibt uns Hoffnung, dass wir damit nicht allein stehen.

Sie sehen die demokratischen Prozesse durch einen "Sieg der Gesinnung über rationale Urteilsfähigkeit" bedroht. Wie ist Ihrer Meinung nach diese Situation entstanden?

Es gibt seit einigen Jahren an Universitäten die Vorstellung, man müsse die Seminarräume von Orten der diskursiven Begegnung hin zu Kuschelecken umgestalten, zu sogenannten "Safe Spaces", in welchen sich Minderheiten wohlfühlen. Dagegen ist im Ansatz nichts zu sagen, außer wenn es dazu führt, dass das Wohlbefinden Einzelner höher gewichtet wird als der Prozess der Erkenntnisgewinnung für die vielen.

Denn für Letzteres sind Universitäten nun mal da. Inzwischen hat sich diese Vorstellung offenbar im Kulturbetrieb und den Medien ausgebreitet. Nicht das Argument zählt heute überwiegend, sondern Gefühl, Identität oder Gesinnung. Das ist ein Frontalangriff auf den zugegeben oft schmerzhaften Aushandlungsprozess, wie er in Demokratien nun mal gebraucht wird. Etwas Besseres als Letzteren haben wir nun mal bisher nicht gefunden.

Sie beschreiben die jetzige Lage so: "Denken in Identitäten und Gruppenzugehörigkeiten bestimmt die Debatten – und verhindert dadurch nicht selten eine echte Diskussion, einen Austausch und Erkenntnisgewinn. Lautstarke Minderheiten von Aktivisten legen immer häufiger fest, was wie gesagt oder überhaupt zum Thema werden darf". Wohin führt Ihrer Meinung nach dieser Weg, wo und wie könnte er enden?

Gerade führt dieser Weg in die intellektuelle Ödnis, in die Monotonie und letztendlich in den Kollaps jeder Kommunikation. Übrigens im Zeichen von Diversität und Achtsamkeit, das ist ja das perfide. Es war u. a. Martin Luther King, der davon geträumt hat, dass seine Tochter einmal nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter und ihrer Persönlichkeit beurteilt werden sollte. Gerade passiert das Gegenteil, man glaubt den Rassismus durch einen "Rassismus des Antirassismus" bekämpfen zu können, wie es Pascal Bruckner mal gesagt hat. Hat King also heute nicht mehr Recht?

Wir sehen, dass dieser Kampf mit immer kleinerer Differenz geführt wird und es Menschen trifft, die eigentlich eher unverdächtig und linksliberal sind. Das zeigt, dass sich die Bewegung totläuft, die Revolution ihre Kinder frisst. Es braucht deshalb einen Schulterschluss einer heterogenen, bürgerlichen Mitte mit linksliberalen Kräften, um diesen Kulturverfall aufzuhalten. Sonst wird es noch mal richtig hässlich werden, bevor sich diese Entwicklung totläuft. Das wollen wir nicht erleben.

Vor Kurzem wurde Ihre Zusammenarbeit mit der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) beendet. Der Grund war Ihre letzte Kolumne. Sie stellten dort die Frage: "Was, wenn am Ende "die COVIDioten" recht haben?" Wie sind Sie mit der Kündigung umgegangen? Konnten Sie sie verstehen?

Zu dieser Frage habe ich mich in einem Blogbeitrag ausreichend geäußert. Ich nehme es sportlich, will diesen Vorfall aber nicht weiter kommentieren, weil ich nicht aus einem aus altruistischen Motiven begonnenen Appell ein egoistisches Anliegen machen will.

Wie waren die Reaktionen ansonsten auf Ihre letzte Kolumne?

Ich habe überwältigend viele positive Reaktionen erfahren. Ich denke, das beste ist nun, wenn möglichst heterogene Positionen coram publico diskutiert werden, wie es in Demokratien üblich ist. Es liegt klar auf der Hand, dass die Menschen ein höheres Bedürfnis an kontroversen Diskussionen haben, als viele Medien es gerade zulassen. Wer sich diesem Prozess intellektuell nicht gewachsen fühlt, sollte nicht in der Medienbranche arbeiten.

Was ist das Ziel Ihres Appells?

Wir wollen den Debattenraum wieder öffnen für möglichst unideologisch geführte Diskussionen, aus denen die Menschen schlauer hervorgehen, als sie reingegangen sind. Und zwar über alle Themen. Wir sind diesbezüglich noch unter unseren Möglichkeiten. Wenn es die jetzigen Protagonisten und Medien nicht hinbekommen, werden es neue Akteure mit neuen Formaten machen. Am Ende treibt uns die Sehnsucht nach Debatten, die von intellektueller Brillanz, Erkenntnisinteresse und Spaß leben und nicht von Monotonie und der Wiedergabe der herrschenden Orthodoxie.

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