Die jüngste Rassismusdebatte hat wieder die Umbenennung der U-Bahn-Station "Mohrenstraße" in Berlin thematisiert. Nach jahrelangen Diskussionen schlugen die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) vergangene Woche vor, die Station solle künftig den Namen der dort ebenfalls verlaufenden Glinkastraße tragen, die an den russischen Komponisten Michail Glinka erinnert. Doch der Ersatznahme löste eine weitere Debatte aus. Mehrere deutsche Medien berichteten mit Verweis auf Experten, dass Glinka bei Lebzeiten Antisemit gewesen sein soll. Anschließend pfiff der Berliner Senat die BVG zurück.
So schrieb die Bild-Zeitung von einem "peinlichen Fauxpas" der BVG und führte als Beweis Glinkas Werk "Fürst Cholmski" an, das angeblich von einer jüdischen Verschwörung handele. Außerdem habe der Komponist in einem Brief seinen jüdischen Kollegen Anton Rubinstein als "Juden" (auf Russisch "Schyd") beschimpft.
Auch in der Berliner Zeitung war zu lesen, dass Glinkas Musikstück "Fürst Cholmski" aus guten Gründen nicht mehr aufgeführt werde.
Die Welt griff die Antisemitismus-Anschuldigung auf und nannte außerdem den Komponisten einen "glühenden Nationalisten", wobei seine berühmteste Oper "Iwan Sussanin" vom antipolnischen Ressentiment prägt sei.
RT Deutsch bat zwei Musik-Experten aus Russland und Deutschland um Auskunft, inwiefern die Anschuldigungen der deutschen Medien begründet seien.
Die russische Musikwissenschaftlerin Jekaterina Lobankowa hat ein Buch über Glinkas Lebenslauf geschrieben. Ihr zufolge könne man allein die Tatsache, dass sich der russische Komponist ausgerechnet in Berlin in eine Jüdin verliebt und ihr sechs Etüden für Gesang gewidmet hat, nicht widerlegen oder streichen:
Er schrieb, dass sie so unglaublich schön wie eine Madonna war. Für ihn war der Vergleich zur Mutter Gottes das höchste Lob. Man muss schon sagen, dass er Deutschland überhaupt nicht verlassen wollte. Denn Maria hatte ihn vollkommen fasziniert und eigentlich wollte er sie heiraten. Aber dann mischte sich das Schicksal in sein Leben ein.
Zu dem Briefwechsel mit einem Freund, in dem Glinka das Wort "Schyd" verwendet hat, erklärt Lobankowa, dass das Wort in der russischen Kultur der damaligen Zeit zwei Bedeutungen hatte:
Die erste Bedeutung war die Bezeichnung der ethnischen Zugehörigkeit, der ethnischen Gruppe und der religiösen Zugehörigkeit. Die zweite Bedeutung des Wortes 'Schyd' war zweifellos abwertend konnotiert.
Natürlich seien Glinka beide Bedeutungen bekannt gewesen, so die Expertin. Sie sieht in diesem Kontext jedoch einen persönlichen Konflikt zwischen den beiden. Man müsse den Kontext, die Geschichte richtig verstehen.
Lobankowa bemängelt außerdem, dass einige deutsche Medien "Fürst Cholmski" als Oper bezeichnen. In der Tat sei es ein Drama, das von Glinkas Freund Nestor Kukolnik geschrieben wurde. Glinka komponierte lediglich die Musik dazu und hatte mit der Handlung nichts zu tun.
Die Expertin hält in dem RT-Interview wiederholt fest, dass Glinka mit vielen Künstlern jüdischer Abstammung befreundet war. Für ihn habe die ethnische Zugehörigkeit keine große Rolle gespielt.
Ob wir es wollen oder nicht, wir sehen in der Vergangenheit immer unser Spiegelbild. Die Frage, ob Glinka Antisemit war, hält uns den Spiegel vor. Wir sehen eigentlich unser Spiegelbild.
Norbert Abels, Professor für Musiktheaterdramaturgie an der Folkwang Universität der Künste und Dozent für Weltliteratur am Mediacampus Frankfurt, sieht die Anschuldigungen gegen Glinka in einem breiten Kontext:
In Deutschland vollzieht sich gerade eine sehr große Säuberungswelle. Da geht man an 'Pippi Langstrumpf'. Man geht an 'Jim Knopf'. Man geht an 'Die kleine Hexe'. Man geht an 'Ronja Räubertochter'.
Es gebe sogar Vorschläge, die Bibel und die Werke von William Shakespeare oder Daniel Defoe auf rassistische Inhalte zu überprüfen. Auf diese Weise könnte man jetzt die gesamte Kulturgeschichte entleeren.
Der ehemalige Chefdramaturg der Oper Frankfurt weist in der Debatte über Glinka darauf hin, dass es in Berlin Straßen gibt, die zum Beispiel nach Marin Luther, der "einer der schlimmsten Judenhasser" gewesen sei, und nach Richard Wagner, der die "rassistische Form des Antisemitismus" in einem Essay dargelegt habe, benannt sind.
Abels widerlegt die Bezeichnung des russischen Komponisten als "Nationalisten". Als Beleg führt das Mitglied der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste eine Inszenierung von Glinkas Oper "Iwan Sussanin" in der Opfer Frankfurt an, an der er zusammen mit dem Regisseur Harry Kupfer gearbeitet hat:
Wir haben den Stoff von 'Iwan Sussanin' aus dem polnischen Kontext herausgenommen und das Ganze in der deutschen Besatzung Russlands im Zweiten Weltkrieg spielen lassen. Und da haben wir gemerkt: Das geht wunderbar auf.
Dass dieses Werk Glinkas immer nationalchauvinistisch ausgelegt werde, sei dem Experten zufolge falsch. "Iwan Sussanin" sei ein ewig gültiges Gleichnis, das zu allen Zeiten und an allen Orten spielen könne. Denn dieses Musikstück handle von dem Widerstand, den ein Mensch mit seinem ganzen Herzen einem totalitären System entgegenbringe.
Was "Fürst Cholmski" angeht, so weist Abels darauf hin, dass es gar keine Oper, sondern eine Bühnenmusik zu einem Stück ist, das Nestor Kukolnik verfasst hat:
Was da verschwiegen wird, ist beispielsweise, dass Glinka darin eine hebräische Melodie spielen lässt, dass er sich überhaupt mit hebräischer Volksmusik sehr stark auseinandergesetzt hat.
Der Autor von mehreren Buchpublikationen zur Literatur und zum Musiktheater betont auch, dass der russische Komponist viele jüdische Freunde hatte. Das Word "Schyd", das er an die Adresse seines Kollegen Rubinstein verwendet hat, habe damals "nicht unbedingt diesen negativen Beigeschmack" gehabt. Das sei übrigens eine Reaktion auf Rubensteins Bemerkung gewesen, wonach die Russen überhaupt nicht komponieren könnten. In diesem Zusammenhang hätte Glinka auch von einem "unverschämten" Italiener, Deutschen oder Russen schreiben können.