von Leo Ensel
Das war eine Punktlandung.
Fast zeitgleich zu Beginn des globalen Corona-Lockdowns meldet sich der fast 79-jährige Bob Dylan, von dem man acht Jahre lang keine neue Eigenkomposition mehr gehört hatte, völlig unvermutet zurück und zeigt mit einem zielgenauen ‚Strike‘ der Welt noch einmal unmissverständlich, wo in der Singer-Songwriter-Szene Gott wohnt. Und zwar mit dem längsten Song, den er jemals geschrieben hat. Es ist, irritierend genug, eine um fast 60 Jahre verspätete Totenklage über die Ermordung von US-Präsident John F. Kennedy.
Jenseits der Zeit
Der Song kommt scheinbar aus dem Nichts und verliert sich in der Unendlichkeit. Seine Großartigkeit, seine herzzerreißende Schönheit erschließen sich erst nach und nach. Es ist ein Lied, das entdeckt, ja erarbeitet werden will. Immer und immer wieder. Am besten als Endlosschleife. Denn so, stellt sich am Ende heraus, ist es angelegt.
Aber ist es überhaupt ein Lied? Beim ersten Hören tut sich eher so etwas auf wie eine riesige Klangfläche. Die Musik, sparsamst instrumentiert, scheint – wie die Zeit im Song – still zu stehen. Ein nicht enden wollender Augenblick. Die Harmonien sind auf das Minimalste reduziert: auf die drei Akkorde des Kadenzschemas. Lichtjahre entfernt scheint noch so etwas wie ein modifiziertes Bluesschema durchzuschimmern.
Und ist es überhaupt ein Singen? Der späte Dylan „sprech-singt“ – wie ein Priester eine Litanei, wie ein Rabbi das Kaddisch – sein endloses Requiem. Er rezitiert die meisten Zeilen fast ausschließlich auf einem Ton, wodurch er, in Kombination mit der außergewöhnlichen Länge des Songs und dessen Endlosschleifencharakter, den Hörer immer tiefer in eine Trance hineinzieht, in der, wie im Traum, die geschilderten Ereignisse aus der Zeit heraustreten, die Chronologie sprengen, sich wechselseitig überlagern.
Der Titel „Murder most foul“, das fand die Netcommunity schnell heraus, stammt aus Shakespeares „Hamlet“ (I/5) – womit Dylan sofort einen archaischen Assoziationsraum eröffnet. Ich übersetze ihn mir mit dem „Allergemeinsten Mord“. Der Siebzehn-Minuten-Song umkreist spiralenartig die Ereignisse vom 23. November 1963, dem „Dark day in Dallas, November ‘63 / A day that will live on in infamy“, er nähert sich derErmordung Kennedys aus tausend Perspektiven und mündet in einer gigantischen, nahezu endlosen Totenklage.
Ein Erzähler, Augenzeugen, echte oder falsche Mörder – wer kann das in diesem verwirrenden Kaleidoskop noch auseinanderhalten? – tauchen auf, inklusive des sterbenden Opfers selbst, in dessen komatösen inneren Monolog, wie aus einer anderen Welt, bisweilen Fetzen aus der Kommunikation Dritter dringen, die vorgeben, sich um den Sterbenden zu kümmern, in Wirklichkeit jedoch längst damit beschäftigt sind, die Spuren des allergemeinsten Mordes zu verwischen. Und dabei gelingen dem Sänger wieder mal Formulierungen, die – wie „Good day to be livin‘ and a good day to die“ oder „Thousands were watching, no one saw a thing“ – sofort den genetischen Fingerabdruck Dylans verraten und das Zeug haben, auf Anhieb zu Klassikern zu werden.
Der Mord an John F. Kennedy, der „Murder most foul“, das versteht auch der mit den Einzelheiten unvertraute Hörer sofort, ist für Dylan Resultat eines skandalösen Komplotts, Figuren wie der offizielle Einzeltäter Lee Harvey Oswald oder dessen Mörder Jack Ruby sind „Only a pawn in their game“ – wie ein Dylan-Song aus dem Jahr nach der Ermordung Kennedys gelautet hatte. – „Their“? Wer „sie“ sind, die offenbar bestens organisierten Hintermänner dieses zeitlosen Verbrechens? Diese Frage lässt Dylan offen – wodurch die fahle Szenerie des Songs nur noch unheimlicher wird.
Stimmen: Tommy, Pussycat, Lady Macbeth und der sterbende Präsident
Der Song beginnt mit der genauen Fixierung von Ort und Zeit der Ereignisse. Aber sehr schnell, spätestens nachdem der Sänger zum Ende der ersten Strophe den legendären amerikanischen Discjockey der Sechziger und Siebziger, Wolfman Jack, zur Totenklage aufgefordert und danach zum ersten Mal die archaischen titelgebenden Shakespeareworte „Murder most foul“ zitiert hat, beginnen die Konturen zu verschwimmen. Immer deutlicher wird nun, dass die minutiöse Beschreibung von Detailfetzen des Jahrhundertmordes und seiner Vertuschung grundiert, vermischt und kontrastiert ist mit Bruchstücken aus Songs und Filmen, mit Mythen und Gestalten der amerikanischen Popkultur der Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts bis fast in die Gegenwart, die, zu Archetypen verdichtet, gespenstergleich aus archaisch-zeitlosen Räumen wieder auftauchen.
Da sind zunächst die Beatles, die, so wird es versprochen, kommen, um verstörten „little children“ die Hand zu halten; vom Liverpooler River Mersey zieht es das lyrische Ich wassermannselig zum legendären Love & Peace-Festival von Woodstock – um unmittelbar anschließend direkt vor der Bühne von dessen Westcoast-Antipoden Altamont zu landen. (Wo, diese Assoziation muss im Lied gar nicht mehr ausgeführt werden, im Dezember 1969 die Hippie-Bewegung ihre Unschuld verlor, als vor den Augen des „Under my thumb“ singenden Mick Jagger der Afroamerikaner Meredith Hunter von einem Mitglied der Rockergruppe Hells Angels erstochen wurde.)
Heerscharen klassischer wie längst vergessener Helden und Figuren aus frühen Stummfilmtagen, dem Rhythm‘n Blues der Fünfziger, dem Rock ‘n‘ Roll, der frühen Beat- und späten Rockmusik, aus Pop und Jazz wie Buster Keaton, Little Suzie und die einen ‚dizzy‘ machende Miss Lizzy, wie die vom Winde verwehte Scarlett O’Hara, The Who‘s Tommy und seine giftige Acid-Queen, wie Marilyn Monroe und Lady Macbeth umtanzen schattengleich die reale Szenerie um den tödlich verletzten Präsidenten und kommentieren, teils verständnisvoll, teils boshaft-zynisch dessen langsames Hinübergleiten in die andere Welt. Träume, Alpträume, Hexen, echte und falsche gute Feen, Heilige und Judasse, Popikonen und reale Personen der Zeitgeschichte vermischen, überlagern sich, Reminiszenzen an uralte Kinderreime klingen an und bilden, wie ein antiker Chor, den unsichtbaren Background des „Murder most foul“.
Und wie in seinem Spätwerk fast überall, montiert Dylan auch hier unzählige Versatzstücke, Zitate aus mehr oder weniger bekannten Liedern des gesamten Pop-Universums in seinen eigenen Text, der sich dadurch zu einem ungeheuren Patchwork auswächst. Zugleich rufen manche Formulierungen – wie „Beeing led to the slaughter like a sacrificial lamb“, „We‘ll mock you and shock you, we‘ll grin in your face“ oder „They killed him once and they killed him twice / Killed him like a human sacrifice“ – geradezu zwingend Assoziationen zum Kreuzestod Jesu herauf.
Die Silhouetten verwischen sich, die Stimmen überlagern sich: Opfer, Mörder, Zuschauer, Erzähler, die zahllosen Gespenster im Hintergrund. In den fiebrigen Halluzinationen des Präsidenten im Koma fließt all dies zusammen zu einem einzigen breiten ‚Stream of Unconsciousness‘ – jenseits der Zeit.
Die Totenklage
Und dann hebt der Song an zur gewaltigsten Toten-Litanei der Popgeschichte. Es ist der ‚Ghost‘ des Präsidenten selbst – „Play me a song, Mr. Wolfman Jack“ –, dessen Leichnam sich auf dem Wege zu seiner pompösen Bestattung befindet – „Play it for me in my long Cadillac“ –, der hier den legendären Discjockey zu seinem eigenen Requiem auffordert. Das gesamte Universum der amerikanischen Popularkultur – Folk, Beat, Rock, Jazz, Film – ja, selbst Shakespeare und Beethoven werden angerufen, herbeizitiert zur grandiosesten Totenklage. Und statt des lateinischen „Ora pro nobis“ („Bitte für uns“) heißt es in der Litanei, die der seit 25 Jahren tote Wolfman Jack für den seit mehr als einem halben Jahrhundert ermordeten US-Präsidenten zelebrieren soll, unendliche Male lakonisch: „Play!“
Mehr als sieben Minuten lang dauert dieses rituelle ‚Gebet‘, das kein Ende nehmen will. Und da die Logik der Zeit längst schon außer Kraft gesetzt ist, wie überhaupt die Grenzen überall durchlässig werden und sich auflösen, so erscheinen hier nach der zeitlosen Logik des Traums Songs und Filmszenen, die Kennedy gekannt haben könnte, zusammen mit Liedern und Mythen, die erst lange nach seinem Tode entstanden.
Es ist eine Song-Litanei, die textorientierten Dylanologen Deutungsarbeit für die nächsten Monate, gar Jahre geben wird. Die internationale Fangemeinde will in „Murder most foul“ mittlerweile mindestens 75 Bezüge zu anderen Songs ausfindig gemacht haben. Die Auflistung scheint endlos, aber der Sound ist vertraut: Unmöglich, zwischendurch nicht immer wieder an Dylan-Klassiker wie „Hard rain’s a-gonna fall“, „Chimes of freedom“ oder „Ring them bells“ zu denken.
Und in diese Litanei ordnet zum Schluss, der keiner ist, sich als Endlosschleife die Litanei selbst ein:
„Play ‚Murder most foul‘!“
Es liegt eine grenzenlose Traurigkeit in diesem Lied. In seinem sparsamsten und daher äußerst wirkungsvollen Pathos. Am Eindringlichsten wird dies in den kleineren Pausen zwischen den Strophen, wenn Geige und Cello für einen ganz kurzen Moment in den Vordergrund treten und ihrer Sehnsucht freien Lauf lassen.
Das Merkwürdigste dieses an bemerkenswerten Details so reichen Songs aber ist, dass er trotz seiner unendlichen Länge und Ein-Tönigkeit niemals langweilig wird! Wie Dylan das geschafft hat, wird wohl sein Geheimnis bleiben.
Präsidentenmord und Corona-Starre
Es ist bekannt, dass der Kennedy-Mord Dylan seit „November ‘63“ immer wieder beschäftigt hat. Und der Song beweist, dass er sich intensivst mit den Details der Ereignisse befasst haben muss. Aber warum schreibt Dylan dieses Requiem mit fast sechzigjähriger Verspätung und warum veröffentlicht er es ausgerechnet jetzt, in einem Augenblick, wo – zum allerersten Mal überhaupt – der gesamte Globus in eine pandemische Schockstarre gezwungen wird? Welche Assoziationen, welche Phantasien will er damit hervorrufen?
Das Timing jedenfalls hätte präziser nicht sein können. Der Sänger nimmt nichts weniger als den gesamten Corona-erstarrten Globus als Resonanzraum. Und in seiner Gespenstigkeit passt der Song genau in diese zwielichtige Zeit des globalen Lockdown hinein.
Und dieser Lockdown hat auch für einen Bob Dylan ganz reale, fast physische Konsequenzen.
Was bislang Nichts und Niemand fertiggebracht hatte, ein unsichtbares Virus bedroht das Lebenswerk des Autors dieses Liedes – und zwar weltweit: Dylans Neverending Tour in einer Endlosschleife um den Globus, die seit über 30 Jahren erstmals stoppt. Und zwar auf unabsehbare Zeit.
Hoffen wir, dass es nicht erfolgreich ist!
Es wäre der zweite – Allergemeinste Mord!
(Der siebzehnminütige Song „Murder Most Foul“ erscheint heute offiziell auf Bob Dylans neuestem Album, der Doppel-CD „Rough and Rowdy Ways“, wo er eine ganze CD einnimmt.)
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