Jeremy Corbyn sei ein Antisemit, die Labour-Partei seit seiner Wahl zum Parteichef 2015 von antisemitischem Gedankengut durchzogen. Eine Wahl Corbyns zum Ministerpräsidenten würde das Leben der britischen Juden gefährden. Das sind einige der heftigsten Vorwürfe, die sich der Labour-Chef insbesondere in den letzten Monaten vor der entscheidenden Wahl im Dezember 2019 gefallen lassen musste. Selbst die New York Times brachte diesen Meinungsartikel des Kolumnisten Bret Stephens kurz vor der Wahl: "Eine Stimme für Jeremy Corbyns Labour-Partei ist eine Stimme für den Antisemitismus".
Beweise für diese Anschuldigungen konnte aber nicht erbracht werden. Eine Bedrohung ging von ihm aber tatsächlich aus, nur nicht so, wie man es dargestellt hatte. Mit seinen Positionen gegen das britische Establishment, seinen Sympathien für das Leid der Palästinenser und seiner antizionistischen Haltung schuf er sich mächtige Feinde. Als sich das Exekutivkomitee der Labour-Partei geweigert hatte, antiisraelische oder antizionistische Aussagen mit Antisemitismus gleichzusetzen, attackierte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu den Briten scharf und warf ihm vor, "Israel mit den Nazis" verglichen zu haben.
Corbyn tätigte diesen Vergleich Israels mit den Nazis aber nie, wie Netanjahu behauptet hat. Er war lediglich Veranstalter eines Holocaust-Gedenktages im britischen Unterhaus im Jahr 2010, bei dem der aus Bielefeld stammende Auschwitz-Überlebende Dr. Hajo Meyer als Hauptredner auftrat. Meyer, selbst Jude, konnte sich mit der israelischen Politik – die zudem in Anspruch nimmt, für alle Juden auf der Welt zu sprechen – immer weniger identifizieren. In seinem 2005 erschienenen Buch "Das Ende des Judentums. Der Verfall der israelischen Gesellschaft" verglich er die israelische Politik gegenüber den Palästinensern mit den Anfängen der Judenverfolgung der Nazis. Und diesen Vergleich stellte Dr. Meyer beim Holocaust-Gedenktag fünf Jahre später erneut auf.
Bei der Hetze gegen Labour mischte auch die britische Zeitung The Jewish Chronicle (JC) ganz vorne mit. In mehreren Artikeln beschuldigte die Zeitung Audrey White, eine Labour-Aktivistin aus Liverpool, aus "antisemitischen" Motiven die Parlamentsabgeordnete Louise Ellman angegriffen haben. White kritisierte Ellman wegen ihrer Tätigkeit als Vorsitzende der Organisation Labour Friends of Israel, die im Zentrum der Doku The Lobby von Al Jazeera stand. Dabei kam heraus, dass diese und weitere Organisationen "sehr eng" mit der israelischen Botschaft in London zusammenarbeiten. Für den größten Skandal sorgte aber der mit einer versteckten Kamera gefilmte Botschaftsmitarbeiter Shai Masot, der sich damit brüstete, Kabinettsmitglieder der britischen Regierung "stürzen" zu können.
Diese Kritik reichte dem Jewish Chronicle aber aus, um White des Antisemitismus zu beschuldigen. Diese ließ sich das aber nicht gefallen und ging juristisch gegen die Verleumdungen vor. Im Dezember entschied dann die britische Presseaufsichtsbehörde IPSO, dass die Berichte der Zeitung über White "signifikant irreführend" seien und "inakzeptabel" schlecht recherchiert wurden.
Um den Streit nach dieser Entscheidung zu schlichten, einigten sich The Jewish Chronicle und White auf einen Vergleich. Die Zeitung zahlt ihr eine Entschädigung, übernimmt die Anwaltskosten und löscht die vier hetzerischen Artikel. Zusätzlich wurde eine knappe Entschuldigung veröffentlicht, in der auch zugegeben wurde, dass "einige" der Anschuldigungen gegen White "unwahr" waren.
Für die Labour-Aktivistin war das eine späte Genugtuung, allerdings war der politische Schaden für die Partei längst angerichtet und das Ziel, Corbyns Wahl zu vereiteln, geglückt. Dabei ist dies nicht der erste Fall, in dem sich die Zeitung wegen Hetze und Verleumdung auf einen Vergleich einigen musste.
Bereits im August 2019 musste das Blatt 60.000 US-Dollar Entschädigung an die Hilfsorganisation InterPal zahlen, nachdem The Jewish Chronicle der Organisation unterstellte, an "terroristischen Handlungen" beteiligt zu sein. InterPal setzt sich für die Rechte der Palästinenser ein und unterstützt mit Hilfsangeboten die Menschen im Westjordanland, in Gaza sowie in palästinensischen Flüchtlingscamps in Jordanien und dem Libanon. In den Fokus der Hetzkampagne geriet die Organisation erst, als Corbyn im März 2019 an einer Veranstaltung teilnahm und man nach Gründen suchte, um ihn mit Antisemitismusvorwürfen überdecken zu können. Am Ende musste sich JC aber ebenfalls öffentlich entschuldigen und zugeben, dass die Vorwürfe falsch waren und man eine Entschädigung wegen Verleumdung an InterPal zahlen werde.
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