Stand die Ukraine im Fokus der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz (MSC, auch SiKo)? Ja und nein. Einerseits hat der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij in seiner kurzen Rede bemängelt, dass die Ukraine im Bericht der Münchner Sicherheitskonferenz nur achtmal erwähnt wurde und in der Prognose der potentiellen Krisenherde von Platz 9 auf Platz 10 fiel. Andererseits gab es am Rande der Konferenz einen bemerkenswerten "Papierkrieg", der kurzweilig sogar zu einem Skandal führte.
So haben mehrere Thinktanks, darunter die Münchner Sicherheitskonferenz und der Russian International Affairs Council (RIAC), das Dokument "Zwölf Schritte zu größerer Sicherheit in der Ukraine und der euro-atlantischen Region" erstellt und kurz vor Beginn der Konferenz auf ihren Webseiten veröffentlicht. Unterzeichnet haben viele prominente Politiker, Diplomaten, Militär- und Sicherheitsexperten.
Dabei gehörten der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger und der damalige russische Außenminister Igor Iwanow zu den fünf Initiatoren des Projekts. Die anderen namhaften 41 Experten aus den EU-Staaten, den USA, Großbritannien, der Ukraine und Russland haben sich als Teilnehmer eintragen lassen. Sieben von insgesamt 17 US-Experten, die das "Zwölf-Schritte-Programm" unterzeichneten, waren hochrangige Vertreter der NGO "Nuclear Threat Initiative", die sich für den Abbau von nuklearen, biologischen und chemischen Waffen einsetzt.
Das Dokument wurde im Geiste der Minsker Vereinbarungen verfasst, mit dem Zweck, eine "politische Lösung" für die Beendigung des bewaffneten Konflikts in der Donbass-Region herbeizuführen, um "die Aussichten auf einen konstruktiven ukrainisch-russischen Dialog im weiteren Sinne zu verbessern". Die Präambel des Dokuments endete mit dem Satz:
Ein solches Vorgehen wird auch dazu beitragen, die Spannungen zwischen Russland und dem Westen zu verringern und eine nachhaltige Architektur der gegenseitigen Sicherheit in der euro-atlantischen Region aufzubauen, einschließlich einer verstärkten Zusammenarbeit bei der Verringerung der nuklearen Bedrohung.
Zu den Vorschlägen der Autoren zählten unter anderem die Schaffung der Freihandelszone in der Ukraine unter Einschluss Russlands sowie die Stärkung des Dialogs zwischen der EU und Russland für ein "gezieltes Management" mit dem Zweck, das Minsker Abkommen umzusetzen. Als letzten Schritt schlug das Papier sogar die Schaffung eines Experten-Gremiums zur Klärung der strittigen Fragen der nationalen Erinnerung, der Sprache und der Identität unter Einschluss der ukrainischen Nachbarländer Polen, Ungarn und Russland vor.
Obwohl das Dokument von vielen US-Amerikanern, darunter vom Obersten NATO-Befehlshaber in Europa a. D. General Philip Mark Breedlove, unterzeichnet wurde, riefen die Vorschläge der Münchner Konferenz einen regelrechten Zorn der Experten des NATO-nahen Thinktanks Atlantic Council hervor. Die einflussreiche Denkfabrik reagierte prompt mit einem Gegendokument unter dem Titel "Fehlerhafter Friedensplan für die Ukraine kommt nicht durch". Hierunter standen die Namen der 27 US-Experten – hochrangiger Militärs wie Wesley Clark, Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte im Kosovokrieg, und von Diplomaten. Viele von ihnen waren zum Moment der Veröffentlichung bereits selbst nach München angereist.
Der Artikel kritisierte grundsätzlich die Beschreibung des Ukraine-Konflikts mit "russlandfreundlichen" Begriffen. Bereits im ersten Satz identifizierten die Unterzeichner das Problem, nämlich die Tatsache, dass der Konflikt in und um die Ukraine stattfinde. Diese Beschreibung verschleiere den Ursprung des Problems und mache es unmöglich, eine angemessene Lösung zu finden.
Ohne die 'Eroberung der Krim' durch russische Truppen, Moskaus 'Hybridkrieg' im Donbass mit massivem 'Desinformationsapparat', gebe es keinen 'Konflikt in und um die Ukraine', so Atlantic Council.
Nahezu zu jedem der zwölf Schritte fanden die Autoren Kritikpunkte, vor allem warnten sie vor der Gefahr, dass das Dokument die Grundlage für Moskau schaffen könnte, "die Sanktionen zu unterlaufen" und eigene Narrative zur Erklärung des Ukraine-Konflikts durchzusetzen.
Der Druck erzielte schnell seine Wirkung: Bereits am Freitagnachmitttag verschwanden die "Zwölf Schritte" von der Webseite der Münchner Konferenz. Ab diesem Zeitpunkt war das Dokument lediglich auf den Webseiten der MSC-Partner European Leadership Network und RIAC abrufbar.
Der Pressesprecher des ukrainischen Ex-Präsidenten Petro Poroschenko rapportierte umgehend auf Facebook, die Entfernung des Dokuments von der Webseite des Veranstalters sei seinem Chef zu verdanken, der in Anspielung auf das Abkommen, das Hitler mit europäischen Staaten im 1938 zur Aufteilung der Tschechoslowakei schloss, eine "neue Münchner Verschwörung" gegen die Ukraine verhinderte, indem er "die Frage an die Organisatoren der Münchner Konferenz scharf stellte". Er habe ihnen erklärt, dass das Dokument eine "russische Provokation" sei.
Poroschenko war nach seinen eigenen Angaben während der ganzen Konferenz außerordentlich aktiv und traf sich mit Dutzenden westlichen Politikern, darunter mit der deutschen Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer und dem türkischen Außenminister Çavuşoğlu, um "für die internationale Unterstützung der Ukraine zu kämpfen".
Laut dem ukrainischen Fernsehsender 1+1 wurde das Dokument von der Webseite nach den Protesten des ukrainischen Außenministeriums entfernt. Dies ist jedoch zu bezweifeln, denn die Presseerklärung des ukrainischen Außenministeriums teilte lediglich mit, dass die Position der Verfasser den Standpunkten des offiziellen Kiews nicht entsprächen. Am Samstag bedankte sich Poroschenko auf seinem Twitter-Account bei der MSC, dass sie "rasch reagierte" und half, das "russische Szenario" in der Ukraine zu verhindern.
Beck: Unangenehm überrascht
Eine offizielle Stellungnahme der Münchner Sicherheitskonferenz zum Vorfall liegt bislang nicht vor. Wolfgang Ischinger zeigte gegenüber den ukrainischen Medien jedoch sein Unverständnis für die Aufregung um den Ukraine-Plan. Er sei grundsätzlich der Meinung, dass Europa die Entfremdung Russlands nicht akzeptieren und den Dialog mit ihm verstärken sowie die Türen offenhalten sollte – "trotz der Aktionen in Syrien, Georgien und der Ukraine".
Ja, ich habe dieses Dokument privat unterschrieben, aber es gibt keinen Grund, so empört zu sein. Wir machen viele verschiedene Vorschläge und hoffen, dass wir von Zeit zu Zeit vernünftige Vorschläge machen. Aber Sie müssen das alles nicht so furchtbar ernst nehmen", sagte der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz.
Die Ex-Abgeordnete der Grünen und erklärte "Freundin der Ukraine", Marieluise Beck, sagte, dass sie von der Arbeit am Dokument nichts wusste und von ihm "unangenehm" überrascht wurde, teilte 1+1 mit. Dass dieses Papier jedoch eine "russische Provokation" gewesen sein könnte, glaubten auch die Unterzeichner beim Atlantic Council nicht. Sie vermuteten, dass das Dokument deshalb das Problem mit kremlfreundlichen Begriffen beschreibe, weil es darum bemüht wurde, "die Mitglieder der russischen Elite zur Unterzeichnung zu bewegen". In der Nacht zum Sonntag wurde das am Freitag entfernte Dokument wieder zugänglich.
Experte: Wenig Konkretes
Der ukrainische Experte, der im Moment im russischen Exil lebt, Wassili Stojakin, ist der Meinung, dass die Münchner Zwölf Schritte zu unkonkret seien, um sie analysieren zu können. Viele seien in der heutigen Ukraine auch einfach juristisch nicht umsetzbar, wie beispielsweise die Wiederaufnahme der Militärbeobachtermission im Donbass unter Einschluss Russlands.
Dies ist lediglich eine Ergänzung zu den Minsker Abkommen, die nicht funktionieren, weil sie unspezifisch formuliert sind und buchstäblich von jedem Begriff mehrere Interpretationen erlauben, schreibt er im Portal ukraina.ru.
In Russland könnte das Dokument dennoch für diejenigen Teile der Eliten interessant sein, die an der Annäherung an den Westen und den Abbau der Sanktionen interessiert sind. Für die ukrainische Führung in der jetzigen Konstellation sei es aber ungefährlich, sie hätte sich "vergeblich" aufgeregt und zu viel Aufmerksamkeit um das Dokument erregt.
Der deutsche Politikwissenschaftler Alexander Rahr meint dagegen, dass auch mit wenig Konkretem das Dokument nützlich sei, denn wichtig sei der Geist, in dem das Dokument verfasst wurde. Es könnte die Grundlage für die spätere Problemlösung werden.
Das Dokument schreibt nicht vor, 'wie' man die Probleme (in Hinblick auf Autonomiestatus, Friedenstruppen etc.) löst. Wahrscheinlich ist dies nicht mehr so wichtig, so Rahr.
Moskau hat den Münchner Ukraine-Plan bislang nicht kommentiert. Der russische Außenminister Sergei Lawrow kritisierte am Montag während seiner Abschlusskonferenz zur MSC erneut, die Ukraine stelle sich der Truppenentflechtung entlang der 400 Kilometer langen Linie quer. Damit würden selbst wenig ambitionierte Beschlüsse des Normandie-Gipfels in Paris nicht umgesetzt. Der ukrainische Verteidigungsminister Andrei Sahorodnjuk sagte im Gespräch mit der DW, der Waffenabzug an der gesamten Frontlinie sei von der Ukraine abzulehnen. Als Grund dafür nannte er die lange Dauer der Maßnahme, deren Umsetzung sich über Jahre hinziehen könne.
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