Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij hatte sich am Rande der Gedenkfeiern zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau an die Seite Warschaus gestellt und gab erstmals auch der Sowjetunion die Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges:
Polen und das polnische Volk haben als Erste die Folgen des verbrecherischen Komplotts der totalitären Regime gespürt. Das führte zum Beginn des Zweiten Weltkrieges und erlaubte es den Nazis, das todbringende Pendel des Holocausts in Gang zu setzen", sagte Selenskij am Montag.
Während seiner Rede konzentrierte er sich auf die bilateralen Beziehungen mit Warschau, dankte Polen für die "Unterstützung der territorialen Integrität der Ukraine" und die "aktive Position bei sanktionsbezogener Druckausübung auf Russland". In seiner fünfminütigen Rede erwähnte der Präsident weder die UdSSR noch die sowjetische Vergangenheit der Ukraine. Das Adjektiv "sowjetisch" war kein einziges Mal zu vernehmen.
Daraufhin hat Russland dem ukrainischen Präsidenten eine Beleidigung der Opfer des Zweiten Weltkrieges vorgeworfen. Mit seinen Äußerungen zu den Ursachen für den Beginn des Zweiten Weltkrieges beleidige Selenskij das Andenken an jene, die den Faschismus bekämpften, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Er warf dem ukrainischen Präsidenten vor, einer falschen Geschichtsdeutung aufzusitzen. Die russische Botschaft in Berlin teilte mit, dass Polen es der Sowjetunion zu verdanken habe, heute noch als Staat zu existieren. Bezahlt habe das Land mit "600.000 Leben von Rotarmisten, die Polen vom Nationalsozialismus befreit haben", hieß es in der Mitteilung. "Es ist nur ihnen zu verdanken, dass Polen heute als Staat existiert."
Leonid Krawtschuk, der erste Präsident der Ukraine (1991-1994), versuchte am Dienstag in der russischen TV-Sendung 60 Minuten, den amtierenden ukrainischen Präsidenten zu verteidigen – allerdings ohne Erfolg. Es kam sogar so weit, dass er anschließend die eigenen Aussagen dementieren musste: Laut Krawtschuk habe Selenskij mit seiner Behauptung gemeint, dass ein Vertrag zwischen der Sowjetunion und Deutschland den Krieg herbeigeführt habe.
"Das ist ja kein Geheimnis": Als sich Hitler mit Stalin traf
Der erste Präsident der Ukraine ging noch weiter und bestand darauf, dass Josef Stalin und Adolf Hitler sich vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges angeblich in Lwow getroffen hätten. Als der Moderator überrascht nachhakte, wo dieser Fall dokumentiert sei, antwortete Krawtschuk:
Es gibt ein Dokument, das ist ja kein Geheimnis. Die beiden haben versucht, sich zu einigen.
Schon am Folgetag musste Krawtschuk seine Worte zurücknehmen. Er räumte ein, dass er keine Dokumente kennt, die ein Treffen zwischen Hitler und Stalin offiziell belegen. Krawtschuk sagte in einer Radiosendung:
Ich habe darüber in der Presse gelesen. Deswegen habe ich es auch gesagt. Persönlich habe ich keine Archivdokumente gesehen, die dies bestätigen. Das ist alles, was ich weiß. Ich habe mich mit diesem Thema nicht tiefgehend beschäftigt, habe es nicht studiert. Ich habe nur übermittelt, was die Presse schreibt.
Er erklärte, er könne die Richtigkeit der in den Medien veröffentlichten Informationen nicht garantieren. Dies sei die Arbeit der Journalisten, so der Ex-Präsident. "Diejenigen, die das schreiben, tragen ja eine gewisse Verantwortung, oder?", fragte er rhetorisch.
Historiker: "Historische Amnesie" und "völliger Unsinn"
RT Deutsch interviewte Michail Mjagkow, einen Historiker und Experten für die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges, über die Aussagen beider ukrainischer Präsidenten. Laut Mjagkow sind derartige Behauptungen nichts als bewusste Faktenverdrehung. Dabei sei Selenskij in eine politische Falle getappt und habe dem polnischen Präsidenten – bewusst oder unbewusst – in die Hände gespielt:
Selenskij sagte, dass sowohl die Sowjetunion als auch Deutschland für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges Verantwortung tragen. Und dass daraufhin der Holocaust ausgebrochen war. Doch tatsächlich trägt vor allem Hitler-Deutschland die Schuld für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Mitverantwortlich sind außerdem Großbritannien und Frankreich mit ihrer Appeasement-Politik, die die Aggression Hitlers in den Osten, Richtung Sowjetunion, lenken wollten, sowie Polen, das in der Vorkriegszeit aktiv an Vorgängen teilnahm, die Hitlers Appetit faktisch noch mehr anregten.
Damit meine ich, dass Polen an der Aufteilung der Tschechoslowakei teilgenommen hat, während das Sudetenland nach dem Münchner Abkommen in das Gebiet des Deutschen Reiches eingegliedert wurde. Polen hat also noch 1938 mit Deutschland beschlossen, dass es aktiv an der Aufteilung der Tschechoslowakei teilnehmen wird. Das erste Opfer Nazi-Deutschlands war Österreich mit dem Anschluss im Jahr 1938 – und dann die Tschechoslowakei. Selenskij hat vergessen, dies zu erwähnen. Die Tschechen in Prag müssten Herrn Selenskij daran erinnern, wie das Münchner Abkommen zustande kam und wie Polen mit Deutschland an der Aufteilung der Tschechoslowakei teilgenommen hat. Er hat das vollkommen vergessen.
Mjagkow nannte solche Aussagen eine "historische Amnesie", von der die ukrainische Führung heutzutage befallen ist, insbesondere Selenskij. Dieser habe entweder keine ausreichenden Geschichtskenntnisse, oder er stimme dem polnischen Präsidenten bewusst zu:
Selenskij behauptete, dass Auschwitz von Truppen der Ersten Ukrainischen Front befreit wurde. Er erwähnte die 322. Schitomir-Division und die 100. Lwow-Division. Doch er erwähnte kein einziges Mal die Rote Armee, die sowjetischen Truppen. Er erwähnte kein einziges Mal, dass Auschwitz von sowjetischen Soldaten Dutzender verschiedener Nationalitäten befreit wurde. Darunter waren Russen, Ukrainer, Weißrussen, Juden, Georgier, Tataren, Armenier. Darüber hat er nichts gesagt. Für ihn zählt nur die Ukraine.
Die Lwow-Division und die Schitomir-Division bekamen ihre Namen übrigens nicht aufgrund ihres Gründungsortes, sondern dank jener Kampferfolge, die zuvor erzielt worden waren. Selenskij sagte nichts darüber, dass die 100. Lwow-Division und die 322. Schitomir-Division unter anderem gegen die galizische SS-Division Nr. 1 gekämpft hatten, die aus ukrainischen Nationalisten und Kollaborateuren bestand. Sie hatten Blut an ihren Händen. Sie hatten Russen, Ukrainer, Juden getötet.
Die Aussagen des ersten ukrainischen Präsidenten über ein angebliches Treffen zwischen Stalin und Hitler sei "völliger Unsinn", so der Historiker:
Krawtschuk wiederholt jenes Geächze, das unsere Klatschpresse in den 90er-Jahren veröffentlicht hat. Die Klatschpresse veröffentlichte nicht geprüfte Fakten, um die öffentliche Meinung in Aufruhr zu bringen. Es ist bekannt, dass es sich um absolute Fake News handelte, die offensichtlich von den USA in die Welt gesetzt worden waren. Angeblich schrieb der FBI-Chef Edgar Hoover im Jahr 1940 einen Brief an den Berater des US-Präsidenten Adolf Berle und erklärte dort, dass sich Stalin und Hitler in Lwow am 17. Oktober 1939 getroffen hatten.
Lassen Sie uns das klären. Es gibt Aufzeichnungen aller Besuche Stalins. Darin ist notiert, dass Stalin sich an diesem Tag im Kreml aufhielt. Auch wenn sich Stalin dieses Treffen gewünscht hätte, wäre es physisch nicht machbar gewesen. Das Tagebuch mit allen Besuchen Stalins zeigt deutlich, dass Stalin an diesem Tag im Kreml war. Es sind eindeutig Fake News.
Dass ukrainische Staatschefs solche Aussagen tätigen, hänge mit der allgemeinen nationalistischen, russophoben Atmosphäre zusammen, die heute in der Ukraine vorherrsche, so Mjagkow:
Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir in der nächsten Zeit viel 'Neues' über unsere Geschichte erfahren werden, ausgedacht von diversen ukrainischen Politikern und amtierenden oder ehemaligen Präsidenten. Sie sind bereit, allen ungeprüften Fakten zu glauben, wenn diese gegen Russland gerichtet sind. Ich befürchte, dass sie sich genauso gut ausdenken können, dass Stalin und Hitler sich irgendwo am Nordpol getroffen und dort die Fahnen beider Staaten gehisst haben.
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