Ab dem 1. Januar 2020 übernimmt Kroatien die EU-Ratspräsidentschaft und hat sich einem Thema verpflichtet, das Deutschland wenig schmecken dürfte. Berlin hatte eigens einen "Austauschbeamten der Bundesregierung" nach Zagreb entsandt, um einen reibungslosen Übergang zur deutschen Ratspräsidentschaft sicherzustellen, die am 1. Juli 2020 beginnt. Eigentlich schwebte der Bundesregierung vor, dass Kroatien den EU-Erweiterungsprozess auf dem Westbalkan, der vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron blockiert wurde, zur Priorität erklärt.
Doch mit einem gezielt platzierten Interview mit der Financial Times nur zwei Tage vor der begehrten Ratspräsidentschaft offenbarte der kroatische Ministerpräsident Andrej Plenković ganz andere Pläne, die er ins Zentrum der Politik rücken möchte. Es geht um die sinkende Bevölkerungszahl nicht nur Kroatiens, sondern auch vieler anderer Länder Osteuropas. Schuld daran ist nicht nur der demografische Wandel, sondern auch die Personenfreizügigkeit innerhalb der EU, sagte Plenković. Was sich anfänglich als Segen erwies, entwickelt sich immer mehr zu einem existenziellen Problem.
Das ist ein strukturelles, nahezu ein existenzielles Problem für einige Nationen, und wir sind nicht die Einzigen. Wir verlieren eine Stadt von 15.000, 16.000 Menschen pro Jahr, nur durch die Tatsache, dass wir 15.000, 16.000 Verstorbene mehr als Geburten haben. Für ein Land von etwa vier Millionen ist das viel, oder? Zudem haben wir jetzt noch die Personenfreizügigkeit.
Kroatien verliert seine Bevölkerung weltweit am fünftschnellsten. Bis 2050 werden nach Hochrechnungen der Vereinten Nationen 17 Prozent der Einwohner von 2017 verschwinden.
Niedrige Geburtenraten sind dabei nur eines der Probleme, denen sich viele Länder stellen müssen. Die Abwanderung in reichere EU-Länder gehört zu den mittlerweile wichtigsten Ursachen für den Bevölkerungsschwund. Allein in Deutschland lebten Ende 2018 fast 400.000 (genau 395.665) kroatische Staatsangehörige, fast zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Davon sind allein zwischen 2016 und 2018 etwas über 63.000 Menschen gekommen. Statistisch haben so über zwei Jahre hinweg jeden Tag mindestens 86 Personen ihr Heimatland verlassen, um in Deutschland ein besseres Leben zu finden.
Diese Entwicklung sorgt für massive Engpässe auf dem kroatischen Arbeitsmarkt. Kleinere Unternehmen müssen schließen, weil sie keine Arbeitskräfte finden, um ihre Aufträge zu erledigen. Der so wichtige Tourismusbereich leidet unter dem Personalmangel, hinzu kommt dort noch das Problem, dass von den Kellnerinnen und Kellnern meistens die Beherrschung von mindestens zwei Fremdsprachen verlangt wird. In Istrien sind es sogar mindestens drei: Deutsch, Englisch und Italienisch.
Um die Folgen der Massenabwanderung abzufedern, haben kroatische – und ausländische – Unternehmen ihre Suche auch auf Asien ausgedehnt, nachdem auch der bisher bevorzugte Arbeitsmarkt Bosnien und Herzegowinas leergefegt ist. Zugleich läuft im kroatischen Radio immer wieder Werbung von Arbeitsvermittlern, die händeringend nach Pflegepersonal, Ärzten und Lkw-Fahrern für Deutschland suchen, inklusive Übernahme der Übersiedlungskosten.
Damit übte Ministerpräsident Plenković indirekt Kritik an Deutschland, das gezielt in osteuropäischen Ländern nach billigen Arbeitskräften sucht, um die eigenen Lücken zu schließen, die durch Abwanderung von Fachkräften und fehlgeleitete Politik entstanden sind.
Zagreb möchte aber, dass sich Brüssel dieser Thematik annimmt und Lösungsansätze erarbeitet. Aus diesem Grund drängte die Regierung darauf, dass Dubravka Šuica trotz Finanzskandals zur Kommissarin für Demokratie und Demografie ernannt wurde. Es wurde gemunkelt, dass das der Preis dafür war, dass sich Plenković zugunsten der eiligst nach Brüssel versetzten deutschen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen aus dem Rennen zum EU-Kommissionspräsidenten zurückzog.
Was Plenković vorschwebt, ist eine Erhöhung von Finanzmitteln der EU, um verschiedene nationale Programme für Kitas, Mutterschutz, Steuererleichterungen etc. zu finanzieren. Das soll letzten Endes zu einer höheren Geburtenrate führen. Doch durch den bevorstehenden Brexit, der ein enormes Loch in das EU-Budget reißen wird, das dann wiederum von anderen Beitragszahlern gestopft werden muss, begibt sich Kroatien auf unwegsames Terrain in Brüssel. Von Ländern wie Ungarn oder Rumänien, die mit denselben Problemen konfrontiert sind, dürfte der kroatische Vorstoß Zuspruch erhalten. Das gilt aber nicht für Deutschland, das einerseits von dem steten Zustrom billiger Arbeitskräfte profitiert und andererseits nach dem Austritt Großbritanniens deutlich mehr in die Kassen der Europäischen Union einzahlen muss.
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