In wenigen Tagen findet das sogenannte N4-Treffen (im Normandie-Format) statt – die Verhandlung zwischen Angela Merkel, Wladimir Putin, Wladimir Selenskij und Emmanuel Macron für Fortschritte im bewaffneten Konflikt um den Donbass im Osten der Ukraine. Mechti Logunow, Häftling im ukrainischen Charkow hat an die Teilnehmer des Gipfels einen offenen Brief geschrieben. Der mehrseitige handgeschriebene Text wird derzeit abfotografiert im Internet verbreitet. Zuvor hat er bereits einen Brief mit ähnlichem Inhalt geschrieben, und zwar an eine Reihe internationaler Organe für den Schutz der Menschenrechte wie den Europa-Rat, das Europäische Gericht für Menschenrechte, die OSZE und Human Rights Watch.
Seit dem Jahr 1962 trat ich für die Bewahrung der Menschenrechte ein, weshalb ich mehrmals vom KGB verhört wurde. Aber ich wurde niemals ins Gefängnis gesteckt. Ganz anders ist es in der demokratischen Ukraine, die überall ihr Bekenntnis für einen europäischen Weg verkündet, aber in der Tat das völlige Gegenteil beweist.
Viele werden aufgrund von erlogenen, falschen und fabrizierten Beschuldigungen inhaftiert. Nicht wenige von ihnen sagen unter Folter und Prügel gegen sich selbst aus und ziehen dann ihre Aussagen vor Gericht zurück.
Sehr geehrte Frau A. Merkel, französischer Präsident E. Macron, eine wahre Hilfe für die Ukraine sind nicht die Investitionen – sie werden sowieso veruntreut, sondern die Sanktionen gegen die Mörder von Charkow, Odessa, Kiew", schreibt Mechti Logunow.
Landesverrat auf dem USB-Stick
Seit August 2017 sitzt der 85-jährige Wissenschaftler in Haft, am 30. Juni 2018 wurde er des Landesverrates beschuldigt und zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Und am 19. November 2019 schließlich hat das Charkower Berufungsgericht dieses Urteil unter Ausschluss der Öffentlichkeit bestätigt.
Bislang gibt es keine Anzeichen dafür, dass dieser Fall irgendeine Menschenrechtsorganisation interessiert. Seit dem Staatsstreich im Februar 2014 in Kiew vertritt Logunow offen regierungskritische Ansichten, zu Zeiten der Tumulte auf dem Maidan nahm er an der sogenannten Anti-Maidan-Bewegung teil. Im Internet bekommt er Unterstützung – aus dem Lager der kritischen Journalisten und einiger Politiker der Partei Oppositionsplattform für das Leben.
Der Vorwurf gegen den 85-jährigen Wissenschaftler aus Charkow ist fadenscheinig und nach dem Drehbuch einer massiven Medienkampagne konstruiert. Der Erfinder und "Kandidat der technischen Wissenschaften" (entspricht dem deutschen akademischen Grad Dr.-Ing.) beschäftigt sich seit dem Jahr 1992 mit der Erarbeitung und Realisierung von Technologien für die Entsorgung von festen Haus- und Industrieabfällen.
In der Branche hatte er viele Kontakte, darunter mit langjährigen Geschäftspartnern in der Slowakei. Er traf sich ständig mit Menschen zur Besprechung technischer Details und möglicher Zusammenarbeit. Bei einem solchen Treffen soll er offenbar gesagt haben: "Das würde die Russen interessieren". Zumindest wurden diese Worte im ukrainischen Fernsehen als angeblicher "Beweis" für einen Landesverrat kolportiert.
Es folgte eine achtstündige Hausdurchsuchung durch acht Schwerbewaffnete der Sonderpolizei, wobei ein USB-Stick gefunden wurde – mit technischen Dokumentationen zu panzerfesten Metallverbundwerkstoffen, zur ballistischen Festigkeitsprüfung von Proben für tandemgepanzerte Sicherheitsstrukturen sowie mit einem Bericht über das wissenschaftlich-technische Zielprogramm "Forschung und Entwicklung zu den Problemen der Erhöhung der Verteidigungsfähigkeit und Staatssicherheit". Inwieweit diese Daten mit Staatsgeheimnissen zu tun haben, lässt sich im Detail nicht überprüfen, denn das Urteil gegen Logunow unterliegt selbst dem Verschluss.
Schon Monate vor seiner Festnahme wurde gegen Logunow ermittelt. Später hieß es, er habe von Russland den Auftrag bekommen, geheime Daten über die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine zu sammeln. Die Ermittler konnten jedoch keinen einzigen Umstand für solch ein Verbrechen benennen: Keine beteiligten Personen und keinerlei Zeit- und Ortsangaben für irgendwelche belastenden Kontakte Logunows zur russischen Seite.
Im Laufe der Gerichtsverhandlungen ergab sich dagegen ein ganz anderes Bild: Eines der angeblich belastenden Dokumente soll sich als Fälschung des ukrainischen Sicherheitsdienstes herausgestellt haben, berichtete das Portal strana.ua. Nur ein einziger Zeuge – von den insgesamt 15 vernommenen – konnte gegen Logunow aussagen. Und der war nach Angaben des genannten Portals – ein SBU-Mann.
Der SBU spielte von Anfang an die zentrale Rolle in dem "Fall". Sein damaliger Chef, Wassili Grizak, sagte im September 2017 in einem Interview, dass Logunow Organisator eines großen Agentennetzes unter dem Code-Name "Rote Kapelle" war. Diese Gruppierung russischer Spione solle aus 18 Personen bestehen. Kein einziger Verdächtiger – außer Logunow – konnte jedoch bislang jemals benannt werden.
Trotz der erdrückenden Hinweise darauf, dass die ganze Angelegenheit eine reine Provokation der ukrainischen Geheimdienste ist, konnte die Verteidigung von Mechti Logunow vor Gericht keinen Erfolg erzielen. Das Gericht nutzte im Verfahrensablauf alle erdenklichen Mittel zur Verzögerung und zum Aufschieben. Das Urteil aus dem Vorjahr wurde nun am 19. November unter Ausschluss der Öffentlichkeit nochmals bestätigt. Zu dieser Verhandlung wurden nur "patriotische Aktivisten" zugelassen. Nach Angaben von vor dem Gerichtsgebäude versammelten Unterstützern Logunows trugen die zugelassenen Prozessbeobachter Waffen, die ihnen allerdings von der Sicherheitskontrolle abgenommen wurden.
Der älteste politische Häftling
Im Gegensatz zu Gerichtsverfahren in Russland gegen Oppositionelle erlangt dieses Verfahren gegen einen bekannten Wissenschaftler keinerlei mediale Aufmerksamkeit. Selbst in Russland wird darüber nur spärlich berichtet.
Und doch kann Logunow wenigstens auf viele Unterstützer zählen. Von ihnen wird das Urteil angeprangert, und sie nennen ihn "den ältesten politischen Häftling der Ukraine", der aufgrund seines Alters "lebenslänglich", quasi ein Todesurteil bekommen habe. Einer der Prominentesten von ihnen ist der frühere ukrainische Premierminister Nikolaj Asarow. Nach dem Urteil des Berufungsgerichtes im November schrieb er empört:
Was ist seine Schuld? Besteht sie nur darin, dass er sich mit seinen Kollegen aus Russland über ökologische Probleme ausgetauscht hat? Das Perverse ist in dieser Situation, dass Politiker, "Oppositionelle", "Menschenrechtler" und westliche Beobachter schweigen. Denn der Gesundheitszustand dieses Menschen, der seit August 2017 hinter Gitter gebracht ist, verschlechtert sich mit jedem Tag! Zu welcher Idiotie ist das ukrainische Gerichtssystem noch fähig? Mit den Rentnern ist man schon fertig, kommen nun Kinder an die Reihe?
"Aus der Sicht etablierter Menschenrechtsorganisationen gehört er nicht zu 'unseren' Justiz-Opfern", sagte der Kiewer Journalist Wladimir Skatschko dem Portal ukraina.ru im Interview. Skatschko ist selbst knapp einer Verhaftung entkommen. Nach einer 14-stündigen Durchsuchung seiner Wohnung durch den SBU und die Beschlagnahmung sämtlicher Rechner – seiner "Arbeitsgeräte" – musste er im Frühjahr Kiew verlassen. Seine "Vergehen" waren Artikel aus dem Jahr 2014, mit denen er angeblich zum Separatismus aufgerufen habe. Jetzt wohnt Skatschko in Moskau.
Derzeit folgen die Unterstützer von Mechti Logunow einem Facebook-Aufruf und dokumentieren ähnliche "Verfahren" in der Ukraine. Viele sind schon bekannt – wie etwa gegen den Journalisten Wassili Murawitzki, der derzeit unter Hausarrest lebt – und einige weitere werden neu dazukommen. Die Liste wird mit jedem Tag länger.
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