von Pierre Lévy
Es ist immer wahrscheinlicher geworden. Nun ist es offiziell: Die Spanier dürfen am 10. November erneut wählen. Rund zwei Monate sind nun vergangen, als der sozialistische Ministerpräsident Pedro Sánchez versuchte, sich vom spanischen Parlament im Amt bestätigen lassen. Ohne Erfolg. Am 23. September lief die Frist für die Bildung einer neuen Regierung aus. Da Sánchez keine parlamentarische Mehrheit für seine Wiederwahl hinter sich bringen konnte, kommt es zu Neuwahlen.
Es wird die vierte Parlamentswahl in nur vier Jahren sein. Um diesen Prozess verstehen zu können, sollte an die Wahlen im Dezember 2015 erinnert werden. Die spanische politische Landschaft erlebte seinerzeit einen großen Umbruch: Die überwältigende Dominanz der beiden großen traditionellen Parteien, der Sozialistischen Partei (PSOE) und der rechts-konservativen Volkspartei (PP), wurde durch die Entstehung zweier neuer Gruppierungen untergraben: der linksradikalen Partei Podemos, die aus der linken Protestbewegung „Indignados“ entstanden ist, und der rechtsliberalen Partei Ciudadanos, eine Gruppierung, die ursprünglich aus Katalonien stammt, sich aber radikal gegen dessen Unabhängigkeit wehrt und sich im ganzen Land ausgebreitet hat (Stichwort: Kampf gegen Korruption, aber auch Liberalismus und sogar Ultraliberalismus).
Diese Vierteilung verhinderte schließlich die Bildung einer parlamentarischen Mehrheit und führte zu Neuwahlen im Juni 2016. Mariano Rajoy (PP) konnte weiterhin im Amt bleiben. Erst im Juni 2018 wurde er letztendlich durch einen unerwarteten parlamentarischen Misstrauensantrag der PSOE-Fraktion gestürzt.
PSOE-Chef Pedro Sánchez übernahm anschließend den Vorsitz der Regierung. Er verfügte jedoch nur über 84 von insgesamt 350 Abgeordneten. Seine Minderheitsregierung hielt bis Februar 2019 durch, als sein Haushalt abgelehnt wurde. Am 28. April fanden dann Neuwahlen statt, die unvermeidlich geworden waren. Aber wieder einmal erwies sich die Bildung einer stabilen Mehrheit als ein Rätsel.
Die PSOE war mit 28,7 Prozent der Stimmen (+ 6,1 Punkte) zwar zum Wahlsieger geworden, aber ihre 123 Abgeordneten waren weit davon entfernt, eine Mehrheit im Parlament zu vertreten. Die linke Podemos (mit einigen Verbündeten) musste sich mit lediglich 14,3 Prozent (- 6,8 Punkte) zufriedengeben.
Großer Verlierer der Wahlen war die PP, die nur auf 16,7 Prozent kam (-16,3 Punkte). Von der Wahlschlappe profitierten vor allem die beiden potenziellen Koalitionspartner: Ciudadanos (15,8 Prozent, +2,8 Punkte), und Vox, eine neue nostalgische Partei, deren Wahl ein Bekenntnis zur Franco-Zeit sein soll. Diese Partei, die von einem plötzlichen Zustrom von Migranten und von der Ablehnung der Unabhängigkeit Kataloniens profitiert hatte, erhielt 10,3 Prozent der Stimmen.
Mit diesen Ergebnissen wurde die These einer rechten Koalition arithmetisch ausgeschlossen. Die Monate nach dem Wahlergebnis vom April wurden also von Verhandlungen zwischen der PSOE und Podemos geprägt. Letztere war bereit, eine Koalition zu bilden, verlangte aber eine gewichtige Beteiligung an der Regierung. Pedro Sánchez hat seinerseits seine Präferenz für ein Kabinett nie verschwiegen, das ausschließlich aus Ministern seiner Partei bestehen würde, das sich aber auf die Podemos-Abgeordneten verlassen hätte. In der Mitte des Sommers schlug er jedoch drei Ministerposten für diese Partei vor – ein Schritt, den der Podemos-Leiter für sehr unzureichend hielt.
Pablo Iglesias, dem vielleicht letzten Endes einfiel, eine Gelegenheit verpasst zu haben, widerrief Mitte September seine Ablehnung. Zu spät, "das Vertrauen ist gebrochen", sagte Sánchez. Dieser zögerte umso weniger, die Aussicht auf eine Regierung mit Podemos ausfallen zu lassen, als die beiden Fraktionen zusammen nicht ausreichten, um eine absolute Mehrheit zu erreichen. Um seine Ernennung zu sichern, hätte der sozialistische Führer auch die Unterstützung von autonomistischen Abgeordneten gebraucht, darunter die separatistischen Abgeordneten der Katalanischen Republikanischen Linken (ERC).
Letztere waren es jedoch, die es im vergangenen Februar durch die Weigerung, seinen Haushalt zu unterstützen, zum Sturz gebracht hatten. Darüber hinaus hätte eine solche Unterstützung einige der sozialistischen Wähler verärgern können, die gegen eine Verständigung mit katalanischen Separatisten sind. Und das zu einem Zeitpunkt, als dieses Thema wieder aufkommen sollte: Mehrere der Unabhängigkeitsführer sind vor Gericht gestellt worden, weil sie versucht haben, die Unabhängigkeit einseitig zu erzwingen (insbesondere mit dem Referendum, das im Oktober 2017 für illegal befunden wurde). Die Urteile werden in Kürze erwartet.
In den Augen der Wähler ist es Pedro Sánchez wahrscheinlich gelungen, Podemos, aber auch Ciudadanos für die Blockade und damit für diese neue Rückkehr zu den Wahlen verantwortlich zu machen: Diese sogenannte "zentristische" Partei verfügte über genügend Parlamentarier, um eine stabile Koalition mit der PSOE zu bilden. Und es gibt keine größe Diskrepanz zwischen den beiden Parteien. Ein Bündnis, das alles gehabt hätte, um die Geschäftswelt zufriedenzustellen.
Der Führer von Ciudadanos hielt jedoch an seiner Strategie fest: zunächst die PP zu überholen und dann die Führung einer "Mitte-Rechts-Koalition" zu übernehmen. Diese Hartnäckigkeit hat eine Krise innerhalb der Ciudadanos ausgelöst und könnte ihnen Stimmen kosten. Die PP könnte ihrerseits wieder in der Wählergunst steigen. Umfragen (die in der Vergangenheit nicht immer gute Indikatoren waren) sagen ebenfalls einen weiteren Rückgang von Podemos voraus.
Zurzeit scheinen die Wahlen am 10. November, deren offizielle Kampagnen erst am 1. November beginnt, eine Art Plebiszit für oder gegen Pedro Sánchez zu sein. Und letzterer hat Grund zur Hoffnung auf ein Ergebnis zu seinen Gunsten.
Zwar ist es unwahrscheinlich, dass die Sozialisten eine absolute Mehrheit gewinnen werden. Aber wenn weitere Fortschritte erzielt werden, könnte sich Herr Sánchez berechtigt fühlen, eine Minderheitsregierung zu führen: Welche Partei würde es wagen, eine fünfte Wahl zu provozieren?
Bereits jetzt ist es wahrscheinlich, dass die Bürger ihre Frustration über die derzeitige Sackgasse zum Ausdruck bringen werden, indem sie sich mehr als bereits im April zurückziehen. Zumal es keine Grunddiskrepanz zwischen den verschiedenen Kräften gibt. Insbesondere stellt keine Partei die Europäische Union wirklich in Frage oder kritisiert sie sogar. Infolgedessen wird keine Politik verfolgt werden, die nicht im Einklang mit dem Gemeinschaftsrahmen steht, insbesondere im wirtschaftlichen und sozialen Bereich.
Vor den Wahlen im April hatte die Minderheitsregierung von Herrn Sánchez zwar einige Maßnahmen ergriffen, wie zum Beispiel die Erhöhung des Mindestlohns auf 900 Euro, die Indexierung der Renten oder die Erhöhung der Stipendien für Studenten – all dies wurde von seinen Gegnern als wahltaktisch kritisiert.
Aber sobald eine vollwertige Regierung steht, wird Brüssel schon bald an die Regeln und Haushaltszwänge erinnern. Eigentlich wird dies wahrscheinlich nicht notwendig sein, da die spanischen Sozialisten stolz darauf sind, ihrem "europäischen Glauben" Ausdruck zu verleihen. Der bisherige spanische Außenminister Josep Borrell tritt am 1. November seinen neuen Posten als Hoher Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik an. Und es ist eine Spanierin, die nun den Vorsitz der Sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament führt (eine Position, die traditionell von der SPD eingenommen wird).
Diese europäischen Erfolge von Herrn Sánchez werden das spanische Volk, insbesondere die Arbeiterklasse, wahrscheinlich nicht vergessen lassen, dass das Land noch nicht die große Krise der 2010er-Jahre überwunden hat. Zwar ist laut Statistik die Arbeitslosigkeit seither zurückgegangen, es gibt aber immer noch offiziell 14 Prozent Arbeitslose. Außerdem spiegelt diese Zahl nicht die Realität wider, die von Prekarität, Armut und Schattenwirtschaft geprägt ist, insbesondere in den am stärksten benachteiligten Regionen.
Auch die Konjunktur verzeichnet in den kommenden Monaten einen Abwärtstrend, in der EU und damit auch in Spanien - wie auch immer die Ergebnisse der Wahl ausfallen werden …
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