Dass die Europäische Union in einer schweren Krise steckt, ist nicht neu und hat unterschiedliche Gründe. Die hohe Wahlbeteiligung bei den EU-Parlamentswahlen im Mai war nicht etwa Ausdruck der Zufriedenheit über den Zustand der Union, sondern ein Aufruf der Wählerinnen und Wähler an die Politiker in Brüssel, ihren Worten der letzten Jahre und Jahrzehnte auch Taten folgen zu lassen. Die Menschen spüren die globale Krise und merken spätestens seit der seit 2015 andauernden Flüchtlings- bzw. Migrantenkrise, dass es auch innerhalb der Union nicht viel besser aussieht.
Eine im Mai durchgeführte Umfrage der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) mit Sitz in London hat ergeben, dass mit Ausnahme von Spanien (40 Prozent) in allen weiteren großen EU-Ländern eine Mehrheit daran glaubt, dass es "wahrscheinlich" ist, dass die EU "in zehn bis zwanzig Jahren auseinanderfallen" könnte. In Frankreich war dieser Wert mit 58 Prozent der höchste, gefolgt von Italien und Polen mit jeweils 57 Prozent und Deutschland mit 50 Prozent.
Insbesondere die gefühlte Unsicherheit der Menschen angesichts der globalen Herausforderungen und Krisen sowie das Unvermögen der EU, sich diesen zu stellen und eine Antwort zu finden, führten zu diesem eher pessimistischen Blick in die Zukunft. Obwohl die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in einem alles andere als demokratischen Verfahren nach Brüssel geholt wurde, nachdem sie sich als Belastung für die Bundesregierung in ihrer Rolle als Verteidigungsministerin erwies, erkannte sie dennoch die Zeichen der Zeit. Zumindest hat sie diese in ihrer politischen Agenda korrekt erfasst und verlangt "ein Europa, das die globale Führung bei den wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit übernimmt".
Was soll aber getan werden? Während sich Nationalstaaten darüber streiten, wie viel EU man tatsächlich braucht, scheinen die befragten Menschen in dieser Hinsicht weiter zu sein als die Politiker ihrer Regierungen. Sie ahnen, dass nur eine starke EU eine Antwort auf die globalen Herausforderungen sein kann, sehen aber nicht unbedingt eine Notwendigkeit in einer weiteren Expansion der Union. Insbesondere in Deutschland und Frankreich scheint der Appetit nach neuen EU-Mitgliedern gestillt, mit jeweils einer klaren Mehrheit gegen die Aufnahme von weiteren Balkanstaaten. Wenig überraschend zeigen sich vor allem Ost- und Südeuropäer offen für eine Erweiterung.
Die Menschen wünschen sich eine unabhängige EU-Außenpolitik, die ihren Namen auch verdient, und nicht einen bloßen Wirtschaftsraum, der am sicherheitspolitischen Rockzipfel der USA hängt. Bei der Frage, auf welche Seite man sich im Falle eines Konfliktes zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Russland stellen sollte, antwortete mit Ausnahme Polens eine überwältigende Mehrheit, dass man sich neutral verhalten sollte. Die höchste Zustimmung für die USA gab es in Polen (33 Prozent), gefolgt von Dänemark (28 Prozent) und der Tschechischen Republik (23 Prozent). In der Slowakei, Griechenland und Österreich gibt es die niedrigste Zustimmung für die USA.
Ein ähnliches Bild ergab sich auch bei der Frage, auf wessen Seite man im Falle eines Konfliktes zwischen den USA und China stehen sollte. Wieder antwortete die absolute Mehrheit in allen Ländern, dass man sich in einem solchen Falle neutral zu verhalten habe. Die Zustimmung für die USA war bei den Ländern gleich gewichtet, allerdings mit einer etwas niedrigeren prozentualen Fürsprache.
Einigkeit herrschte auch bei Fragen zum Iran und Syrien. In sämtlichen Ländern stimmten die Befragten mit einer klaren Mehrheit zu, dass das Atomabkommen mit dem Iran beibehalten werden sollte. Lediglich in Frankreich sank die Zustimmung auf 47 Prozent, während 17 Prozent der Meinung waren, dass auch ihre Regierung dem Beispiel der USA folgen sollte.
Zu Syrien wurden die Menschen gefragt, ob europäische Länder so viel getan haben, wie sie es hätten tun können, um den Krieg zu beenden. 70 Prozent der Griechen sagten klar Nein, während bei Ländern wie Deutschland, Schweden und der Tschechischen Republik eine knappe Mehrheit mit Nein geantwortet hat. In Dänemark und den Niederlanden war es sogar eine knappe respektive deutliche Mehrheit, die der Meinung ist, dass die Europäer sich genügend für die Beendigung des Krieges eingesetzt haben.
Insgesamt lässt sich aber feststellen, dass sich die meisten Menschen in der Europäischen Union eine eigenständige und vor allem von den USA unabhängige Außenpolitik wünschen. Das steht allerdings im krassen Gegensatz zu den Vertretern einer transatlantisch orientierten Politik, die sich zudem vollkommen auf die NATO als alleinige Sicherheitsgarantie verlassen. Das sind auch die gleichen Stimmen, die sich gegen eine Emanzipierung von den USA aussprechen und die Schaffung von eigenen sicherheitspolitischen Strukturen wie dem Europäischen Verteidigungsfonds oder PESCO nicht gutheißen.
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