Am Dienstag gaben die ukrainischen Aktivisten Oleg Senzow und Alexander Koltschenko in Kiew eine Pressekonferenz, auf der sie über ihre fünfjährige Haft in Russland und ihre Tätigkeit vor der Festnahme im Mai 2014 auf der Krim berichteten. Die beiden waren am 7. September im Rahmen eines russisch-ukrainischen Häftlingsaustauschs – 35 gegen 35 – freigelassen worden.
Da Oleg Senzow im Jahre 2011 einen Amateurfilm gedreht hat und mit selbigem an mehreren Filmfestivals teilnahm, ist er der Öffentlichkeit als "Regisseur und Filmemacher" bekannt. Seit Ende 2013 hat er jedoch "hauptberuflich" an den Protesten in Kiew gegen Präsident Janukowitsch und später gegen russische Vertretungen auf der Halbinsel Krim teilgenommen. Sein Wohnsitz war von Geburt an die Krim-Hauptstadt Simferopol.
Senzow wurde am 10. Mai 2014 verhaftet und am 25. August 2015 wegen terroristischer Aktivitäten auf der Krim von einem russischen Militärgericht in Rostow am Don zu zwanzig Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Koltschenko wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Von den weiteren zwei Verurteilten in diesem Verfahren wurde einer, und zwar Gennadi Afanassjew, bereits freigelassen.
In detaillierten Aussagen erhebt Afanassjew Vorwürfe gegen Senzow. Diesen zufolge hat Senzow einen Kreis von Protestierenden angeführt, der Brandstiftungen, Sprengungen und womöglich auch weitere Sabotage-Aktivitäten plante.
Insgesamt wurden Senzow und seiner Gruppe bereits ausgeführte Brandstiftungen zweier Parteibüros und Bombenangriffe auf ein Lenin-Denkmal sowie auf das Mahnmal "Ewige Flamme" im Zentrum der Stadt zur Last gelegt. Kurz nachdem Afanassjew im Zuge zweier Vernehmungen Aussagen im Beisein der Zeugen tätigte, wurde auch Senzow festgenommen. Bei dem weiteren Angeklagten wurde eine selbstgebaute Bombe gefunden.
Kurz vor der Gerichtsverhandlung distanzierte sich Afanassjew jedoch von seinen Aussagen, diese seien unter Folter und Erpressung von ihm getätigt worden. Belege für Misshandlungen legte er nicht vor. Obwohl die Ermittlung auch weitere Belege für Senzows führende Rolle in der Sabotage-Gruppe vorlegte, wie Telefonate oder Waffenbesitz, wurde in der Ukraine und im Westen rasch die These verbreitet, wonach die Vorwürfe gegen Oleg Senzow erfunden und die Eingeständnisse dementsprechend "ausgeprügelt" seien. Stets wird betont, dass das Verfahren gegen einen renommierten "Filmemacher" ein "Schauprozess" sei.
Senzow hat wegen seiner souveränen Haltung während des Prozesses und seines Hungerstreiks im sibirischen Arbeitslager, in dem er seine Haft absaß, viele Sympathisanten nicht nur im Westen, sondern auch unter manchen russischen Oppositionellen als "Häftling des Kremls" gefunden. Ein russischer Doku-Filmer drehte den Film "Der Prozess", der zur Hälfte aus den Aufnahmen von Senzow im Gerichtsgebäude besteht.
Nach seiner Rückkehr wurde er nicht nur in der Ukraine als Held gefeiert. Der Präsident des EU-Parlaments, David Sassoli, hat sogar angekündigt, persönlich in die Ukraine reisen zu wollen, um Oleg Senzow den Sacharow-Menschenrechtspreis für geistige Freiheit zu überreichen. Das EU-Parlament hat Senzow den Preis schließlich im Dezember 2018 verliehen.
Nun haben Senzow und Koltschenko während ihres Presseauftritts auf Fragen der Journalisten mehrdeutige Aussagen gemacht, die das Bild der zu Unrecht Verurteilten erheblich stören.
So erklärte Senzow auf eine Frage hin, dass er in Simferopol zu einem Kreis von Menschen gehörte, in dem über Anschläge und die Bildung von Untergrundgruppen gesprochen wurde. Diese Gespräche beschrieb er als Träumereien der "Couch-Generäle".
Dort wurden sehr verrückte Ideen geäußert, Partisanen-Einheiten, Erdhöhlen, Sprengung von Brücken. Alle möglichen Leute. Wie man heute sagt: die Garde vom Sofa. Wir haben uns versammelt, haben etwas beraten, habe alle möglichen Einzelheiten besprochen, sagte er.
Die Sprengungen seien einfach nur "Gespräche" gewesen, die man dann dem Aktivisten Gennadi Afanassjew angehängt habe. Senzow sagte auch, dass ein friedlicher Protest in dieser Situation nicht möglich gewesen sei. Er verglich die Ereignisse auf der Krim im Frühling 2014 mit dem Angriff Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion im Juni 1941. "Da muss man sich verteidigen", sagte Senzow zur Brandlegung im Parteibüro von "Einiges Russland".
Ich habe mit Russland gekämpft, wie es meinerseits möglich war, aber dies waren keine kriminellen Handlungen. Es ist verständlich, dass es ihnen nicht behagte. Sie (FSB - Anm. der Red.) sind große Erfinder, das (die Anklage - Anm. der Red.) ist für sie kein Problem. (…) Als man Tschirnij (mit dem Sprengstoff – Anm. der Red.) festgenommen hat, haben sie die getätigten Aussagen zusammengewürfelt und etwas daraus konstruiert.
Der Aktivist Alexander Koltschenko, der aus dem linksautonomen Lager stammen soll, gestand auf der Konferenz, dass er bei dem Brandanschlag auf das Büro von "Einiges Russland" in Simferopol teilgenommen habe. Dass das Haus, in dem sich das Büro befand, aber bewohnt war, sei ihm "nicht bekannt gewesen". Das mehrstöckige Wohnhaus sei zuvor von einem Aktivisten inspiziert worden. Dieser habe in dem Haus keine Menschen angetroffen.
Senzow erzählte auf der Pressekonferenz auch, dass er vor seiner Verhaftung in ständigem Kontakt mit Kiew gewesen war. Er sei von einem Vertreter des ukrainischen Generalstabes angerufen worden. Dieser habe ihn gebeten, die ukrainischen Militärs, die man aus einem Wohnheim auf der Krim ausgesiedelt habe, in die Zentralukraine zu bringen. Auf die Frage, ob und wie Senzow auf die Krim zurückkehren wolle, sagte Senzow,
dies ist nur auf Panzern möglich.
Bezeichnend bei dieser Konferenz war auch das Verhalten der ukrainischen Journalisten. Sie dankten Oleg Senzow für seinen Einsatz, verlangten Autogramme von ihm und vermieden es, die Vorwürfe gegen ihn anzusprechen. Die Fragen drehten sich um den Alltag im Lager sowie seine Wünsche und Gefühle nach der Rückkehr. Die wenigen Fragen um die "kontroversen Fakten" bezüglich seiner Verhaftung kamen von Reportern aus dem Netzwerk des Videobloggers Anatolij Scharij und des Portals Strana.
Nach der Konferenz berichteten beide Medien über die Anfeindungen im Saal, und in sozialen Medien wurden die "unsinnigen" Fragen kritisiert. Ein Mitarbeiter des NGO-finanzierten Kanals Hromadske TV schlug sogar vor, derartige Fragensteller künftig im Sinne der journalistischen "Selbstregulierung" notfalls mit Gewalt zu maßregeln. Seine "Vorschläge", die er auf Facebook unterbreitete, haben schließlich zur Überprüfung der Inhalte auf seinem Kanal geführt.
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