Am 1. September werden die Präsidenten Polens und Deutschlands, Andrzej Duda und Frank-Walter Steinmeier, gemeinsam des Beginns des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren gedenken, genauer gesagt des Angriffs Nazi-Deutschlands auf Polen.
Damit wird auch die seit einiger Zeit von der polnischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) erhobene Forderung nach Reparationen lauter. Immense Summen stehen im Raum.
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Arkadiusz Mularczyk, der Vorsitzende einer parlamentarischen Kommission zur Ermittlung der Reparationsforderungen und PiS-Abgeordneter, verlange in einem noch unveröffentlichten Bericht die Summe von 850 Milliarden Euro, heißt es aus Warschau. Das Papier soll am 1. September veröffentlicht werden. Im Frühjahr 2018 war noch die Rede von 690 Milliarden.
Die Forderungen werden oft in Zusammenhang mit der Ungerechtigkeit im Vergleich zur Behandlung Frankreichs und der Niederlande gesetzt. So fragte der polnische Außenminister Jacek Czaputowicz (PiS):
Es gibt Länder, die ein Vielfaches weniger verloren haben, aber mehr Kompensation bekommen haben. Ist das in Ordnung? Die zentrale Frage ist, ob Polen im Vergleich zu anderen Staaten fair behandelt wurde.
Tatsächlich war der Grad der Zerstörung durch den Vernichtungsfeldzug in Polen vergleichsweise hoch. In ihren öffentlichen Äußerungen verschärft die polnische Regierung den Ton und verweist auf die Verluste.
Mehr als 1.000 polnische Dörfer sind von Deutschen ausgelöscht worden. Wir werden die Summe, die wir fordern, seriös ermitteln", sagte Ministerpräsident Mateusz Morawiecki zuletzt in einem Interview mit der Funke Mediengruppe.
Sein Land hat im Zweiten Weltkrieg gemessen an der Gesamtbevölkerung so viele Tote zu beklagen wie kein anderes Land. Vier bis sechs Millionen Polen kamen ums Leben – bis zu ein Fünftel der Bevölkerung.
Ein Großteil des Landes wurde zerstört, sogar wehrlos ausgelieferte Orte wurden angegriffen, in denen nicht einmal Soldaten stationiert waren und es auch keine militärischen Einrichtungen gab – wie die grenznahe polnische Provinzstadt Wieluń, in der innerhalb weniger Stunden 1.200 Menschen getötet und durch den Angriff 75 Prozent der Stadt zerstört wurden. Ein Krankenhaus wurde gleich zu Beginn angegriffen. In Wieluń war derselbe Luftwaffenoffizier Inhaber der Befehlsgewalt, Wolfram Freiherr von Richthofen, der bei dem verheerenden Bombeneinsatz in Guernica als Stabschef die Verantwortung trug.
Erstmals finden in diesem Jahr auch in Wieluń Gedenkfeierlichkeiten statt, bei der Bundespräsident Steinmeier reden wird. Die Feierlichkeiten, zu denen in Warschau auch US-Präsident Trump erwartet wird, sollen im Zeichen der Versöhnung stehen.
Die Staatschefs nehmen die deutschen und polnischen Schlussläufer einer Staffel in Empfang, die zwölf Stunden vorher im 90 Kilometer entfernten Oppeln (Opole) startet. Aus dieser Gegend kamen damals die Bomber. Ein Fackelläufer soll eine Friedensflamme auf dem zentralen Plac Legionów, dem Platz der Legionen, entzünden.
Zum 75. Jahrestag des Warschauer Aufstands sagte Bundesaußenminister Heiko Maas am 1. August 2019 in Warschau: "Ich schäme mich für das, was Ihrem Land von Deutschen und im deutschen Namen angetan wurde."
Bei einem Treffen der Außenminister beider Länder im Juli erwähnte Maas die Errichtung eines Denkmals für die polnischen Opfer des Zweiten Weltkriegs in Berlin. Doch die rechtskonservative PiS macht immer wieder klar, dass sie mehr erwartet, und verweist immer wieder darauf, dass westliche Staaten wie Frankreich und die Niederlande deutlich besser behandelt worden seien.
So betonte Czaputowicz auch im Juli das Gefühl der Ungerechtigkeit angesichts fehlender Wiedergutmachung für die Schäden und Verluste durch den Krieg und meinte, das Thema dürfe in den Beziehungen zwischen den beiden Ländern nicht ausgespart werden.
Doch die deutsche Seite schmettert die Reparationsforderungen mit einer Standardantwort ab: Die Frage sei "rechtlich und politisch abgeschlossen".
Berlin beruft sich vor allem auf den Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 über die außenpolitischen Folgen der deutschen Einheit. Darin wurden Reparationen zwar nicht erwähnt. Aber genau diese Tatsache zeigt nach Rechtsauffassung der Bundesregierung, dass es keine Ansprüche mehr gibt. Es ist also ein juristischer Schlussstrich unter den Zweiten Weltkrieg, den Deutschland ziehen will – ein schwieriges Unterfangen, da es quasi deutsche Staatsräson ist, dass dieser Schlussstrich moralisch nie gezogen werden darf.
Die Erinnerung und die Aufarbeitung (…), die wird für uns niemals abgeschlossen sein", sagte Maas unlängst in Warschau.
Den Spagat zwischen Recht und Moral hält die Bundesregierung bisher aus. Sie weiß, dass eine riesige Welle von Ansprüchen auf sie zukommen könnte, wenn sie die Tür auch nur einen kleinen Spalt öffnet.
Sieben Billionen Euro
Kaum vorstellbare Summen stehen im Raum, nicht nur Polen fordert Reparationen. Nach polnischen Schätzungen, die auf einer Bestandsaufnahme von 1946 plus Zinsen beruhen, belaufen sich die von Deutschland verursachten Kriegsschäden auf gut 800 Milliarden Euro. Auch in Griechenland hat hat eine parlamentarische Kommission Kriegsschäden berechnet und kam auf 289 Milliarden Euro inklusive einer Zwangsanleihe, die Griechenland der Deutschen Reichsbank während des Kriegs gewähren musste. Allein die potenziellen Ansprüche dieser beider Länder summieren sich also auf mehr als eine Billion Euro.
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Die Historiker Karl Heinz Roth und Hartmut Rübner machen eine noch viel größere Rechnung auf. Sie schätzen, dass sich die von Deutschland verursachten Kriegsschäden in 21 Ländern zusammen auf 7,5 Billionen Euro belaufen. Die von Deutschland geleisteten Entschädigungen lägen dagegen nur bei 951 Milliarden Euro. Blieben unter dem Strich rund 6,5 Billionen Euro. Das ist fast das Doppelte der jährlichen Wirtschaftsleistung Deutschlands.
Eine solche Summe zu zahlen, könne selbst einer wirtschaftlichen Großmacht wie Deutschland nicht abverlangt werden, meint Roth. Realistisch erscheint ihm die Größenordnung der bereits gezahlten Summe – also eine Billion Euro für bis zu 15 Länder. Roth und Rübner stehen mit solchen Ideen aber ziemlich isoliert da.
Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages stützten in einem kürzlich veröffentlichten Gutachten die Rechtsauffassung der Bundesregierung zumindest hinsichtlich Polens. Die Regierung in Warschau habe 1953 und dann noch mal 1970 ausdrücklich den Verzicht auf Reparationen erklärt, was bis heute "völkerrechtlich bindend" sei, schreiben die Experten. Von polnischer Seite werden die Erklärungen allerdings als ungültig angesehen, weil sie auf Druck der Sowjetunion erfolgt seien.
Im Potsdamer Abkommen von 1945 einigten sich die vier Siegermächte, dass die Sowjetunion aus der sowjetischen Besatzungszone im Osten Deutschlands entschädigt wird und Polen einen Anteil zukommen lässt. Bis 1953 wurden nach Schätzungen etwa 3.000 Betriebe demontiert und zusätzlich Güter aus laufender Produktion abtransportiert. Die Regierung in Warschau argumentiert aber, dass Polen seinen Anteil durch Kohlelieferungen an die Sowjetunion habe ausgleichen müssen. Außerdem seien westliche Staaten wie Frankreich und die Niederlande deutlich besser behandelt worden. So weit die polnische Erzählung.
Für Aufsehen sorgte, was in dem Gutachten zur deutschen Reparationsabsage an Griechenland steht: "Die Position der Bundesregierung ist völkerrechtlich vertretbar, aber keineswegs zwingend." Anders als Polen habe Griechenland nie einen Verzicht auf Reparationen erklärt. Im Gegenteil: Es habe seine Ansprüche sogar immer wieder deutlich gemacht. Die Wissenschaftlichen Dienste regten deswegen eine Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag an, um Rechtsklarheit zu schaffen.
Griechenland ist mit den Reparationsforderungen schon einen Schritt weiter als Polen. Anfang Juni hat die Regierung in Athen – damals noch unter dem linken Regierungschef Alexis Tsipras – Deutschland in einer diplomatischen Note offiziell zu Verhandlungen aufgefordert.
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In Warschau will man noch abwarten, zu welchem Ergebnis die Parlamentskommission kommt, ihr Bericht soll praktisch fertig sein.
Für Bundespräsident Steinmeier wird die Reise nach Polen angesichts der Reparationsdebatte jedenfalls eine seiner bisher schwierigsten. In seiner Rede in Wieluń dürfte er jedes Wort ganz genau abwägen. Nicht nur Präsident Duda und die polnische Regierung werden gut zuhören, sondern auch die Überlebenden des Bombardements. Zofia Burchacińska, die als Elfjährige den Angriff auf Wieluń und viele Verluste wie den Tod ihres Bruders erlebte, hat eine ganz konkrete Erwartung:
Vom Bundespräsidenten würde ich gerne eine Entschuldigung für das Bombardement und die fast vollständige Zerstörung Wieluńs hören, einer Stadt ohne Soldaten, ohne Industrie, in der die Menschen friedlich lebten.