Der britische Labour-Chef Jeremy Corbyn will vorübergehend als Premierminister das Steuer übernehmen, um einen EU-Austritt Großbritanniens ohne Abkommen mit Brüssel doch noch zu verhindern. Weniger als 80 Tage vor dem Brexit drängt der 70-Jährige die Parteien im Parlament, den konservativen Regierungschef Boris Johnson mit einem Misstrauensvotum aus dem Amt zu zwingen.
Als Premier wolle er den Brexit hinauszögern, Neuwahlen ausrufen und ein neues Referendum über die EU-Mitgliedschaft auf den Weg bringen. Das schrieb Corbyn am Mittwochabend in einem Brief an die Chefs aller anderen Oppositionsparteien und an die Rebellen in der regierenden Konservativen Partei.
Das Schreiben veröffentlichte Corbyn auch im Kurznachrichtendienst Twitter. "Unsere Priorität sollte es sein, im Parlament zusammenzuarbeiten, um einen sehr schädlichen No-Deal-Brexit zu verhindern", heißt es darin. Der Chef der britischen Sozialdemokraten hofft, viele Kritiker auf seine Seite ziehen zu können, wenn seine Zeit als Premier klar befristet sein würde. Seine Gegner werfen ihm vor, lange Zeit nicht klar genug Stellung zum Brexit bezogen zu haben. Sein Vorschlag stieß bei den anderen Parteien auf ein geteiltes Echo.
Die neue Chefin der Liberaldemokraten, Jo Swinson, bezeichnete Corbyns Vorschlag umgehend als "Unsinn". Corbyn sei auch als Person nicht geeignet, eine Mehrheit für seinen Plan zusammenzubringen – selbst in seiner eigenen Partei sei er umstritten. Die Grünen begrüßten zwar das vorgeschlagene Misstrauensvotum, wollen aber ein neues Referendum noch vor eventuellen Neuwahlen.
Ein Regierungssprecher sagte zu dem Vorstoß: "Es gibt eine klare Wahl: Jeremy Corbyn, der das Referendum außer Kraft setzen und die Wirtschaft ruinieren wird, oder Boris Johnson, der das Referendum respektieren und mehr Geld für das (staatliche Gesundheitssystem) NHS und mehr Polizei auf unseren Straßen zur Verfügung stellen wird."
Johnson will Großbritannien unter allen Umständen am 31. Oktober 2019 aus der Europäischen Union führen. Er pocht auf Änderungen am fertigen Austrittsvertrag mit der EU, will aber notfalls auch ohne Abkommen gehen. Das Parlament hatte das Austrittsabkommen drei Mal durchfallen lassen, aber auch klar gegen einen Brexit ohne jeglichen Vertrag gestimmt. Johnson hatte zuletzt nicht ausgeschlossen, zur Not dem Parlament eine Zwangspause aufzuerlegen, um es so handlungsunfähig zu machen.
Johnson will den vereinbarten Backstop im Abkommen streichen, was wiederum die EU ablehnt. Diese Garantieklausel soll verhindern, dass zwischen dem britischen Nordirland und dem verbleibenden EU-Mitglied Irland wieder Grenzkontrollen eingeführt werden müssen. Denn das könnte den alten Konflikt zwischen katholischen Befürwortern einer Vereinigung Irlands und protestantischen Loyalisten wieder schüren.
Der Backstop sieht vor, dass Großbritannien so lange Teil einer Zollunion mit der EU bleibt, bis das Problem anderweitig gelöst ist. Für Nordirland sollen zudem teilweise Regeln des Europäischen Binnenmarkts gelten. Johnson sieht in der Klausel ein "Instrument der Einkerkerung" Großbritanniens in Zollunion und Binnenmarkt.
(rt deutsch/dpa)