Laut UNO-Flüchtlingshilfswerk ertranken im Jahr 2018 im zentralen Mittelmeer im Schnitt jeden Tag sechs Menschen bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren und die "Festung Europa" zu erreichen. Insgesamt starben demnach im Jahr "2018 mindestens 2,275 Menschen" auf diese Weise.
Das sind drastische Zahlen, wenn man bedenkt, dass die strukturelle Basis des hiesigen Reichtums nach wie vor zu einem nicht unerheblichen Teil auf der künstlichen Armut des globalen Südens und insbesondere des afrikanischen Kontinents beruht. Und doch, die Zahl der Toten ist kein Vergleich mit derjenigen der vorherigen Jahre.
In den ersten Wochen des Jahres 2019 sind nach UNHCR-Schätzung (…) 185 Menschen im Mittelmeer ertrunken", heißt es seitens der UNO.
Als die Kapitänin Carola Rackete 40 Menschen aus der Seenot vor der libyschen Küste an Bord der Sea-Watch 3 aufnahm, lief sie den italienischen Hafen in Lampedusa an. Die italienischen Behörden stellten sie unter Hausarrest, und ihr drohte eine Haftstrafe wegen "Beihilfe zur illegalen Einwanderung" und "Gewalt gegen Kriegsschiffe". Die Empörung und "Solidarität" mit Rackete war anschließend das öffentlichkeitswirksam bestimmende Thema der erlauchten politischen Kreise Berlins. Am Montag wurde die Klage gegen Rackete fallen gelassen.
Menschenleben zu retten ist keine Straftat, sondern ein humanitärer Akt", wusste Bundesaußenminister Maas anschließend auf dem Kurznachrichtendienst Twitter zu berichten.
Gleichzeitig wurde die Seenotrettung der EU bereits vor geraumer Zeit quasi eingestellt.
Dieser hier nur skizzierte moralische Dünkel und die systemische EU-Doppelmoral in Sachen "Menschenrechte" ging einigen Juristen dann doch zu weit. Sie erstatteten deshalb Anzeige gegen EU-Verantwortliche beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (IStGH). Der Vorwurf: Im Rahmen ihrer "Migrationspolitik" nehme die Europäische Union, immerhin Friedensnobelpreisträger des Jahres 2012, wissentlich den Tod von Migranten zu Wasser und auf dem Land sowie Vergewaltigung, Folter und Versklavung der Flüchtlinge in Libyen in Kauf. Dazu trage auch die Ausbildung der sogenannten "libyschen Küstenwache" bei, um den Rücktransport der Menschen nach Libyen zu fördern, wo Folter und Tod bereits Tausende dahingerafft habe. Zu allem Überfluss würden für dieses Treiben zudem die Steuerzahler in der EU zur Kasse gebeten.
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Garniert das Ganze mit dem Argument, dadurch vor allem Schleusern das Geschäft vermasseln zu wollen.
Schon Anfang des Jahres 2018 wurde darüber berichtet, dass sich die Spezialeinheit SDF (Special Deterrence Force) der sogenannten libyschen Einheitsregierung (GNA) schwerster Menschenrechtsvergehen schuldig machte. In dem entsprechenden Bericht heißt es u. a.:
Bewaffnete Gruppen, auch solche, die mit der libyschen Einheitsregierung verbunden sind (…), sind an willkürlichen Inhaftierungen, Entführungen und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt.
Die Menschenrechtsanwälte, die nun Strafanzeige stellten, berufen sich auf EU-Dokumente und Stellungnahmen vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel und Brüsseler EU-Granden.
Nach Ansicht des nun klagenden französisch-spanischen Anwalts Juan Branco bestand in erster Linie eine Straftat seitens der Europäischen Union darin, die Seenotrettungsaktion Mare Nostrum 2014 einzustellen. Überwiegend von Italien finanziert und der italienischen Marine geleitet, waren durch die Operation über 150.000 Migranten und Flüchtlinge aus dem Mittelmeer gerettet worden, so die Internationale Organisation für Migration (IOM). Der Vorwurf lautet "Verbrechen gegen die Menschlichkeit".
Kritiker hatten den Marine-Einsatz hingegen beanstandet und dessen Einstellung gefordert. Durch die Seenotrettung werde ein sogenannter "Pull-Effekt" begünstigt. Demnach stieg der Migrationsstrom über das Mittelmeer nach Italien von rund 45.000 im Jahr 2013 auf rund 170.000 im Jahr 2014 an. Auch die Zahl der Todesopfer sei im gleichen Zeitraum von etwa 600 auf 3.100 angestiegen, also etwa das Sechsfache.
"EU-Beamte versuchten, Mare Nostrum zu beenden, um angeblich die Zahl der Überfahrten und Todesfälle zu verringern", halten die Anwälte dagegen. "Diese Gründe sollten jedoch nicht als stichhaltig angesehen werden, da die Überfahrten nicht reduziert wurden. Und die Zahl der Todesopfer stieg um das 30-Fache an.
Heribert Prantl schrieb dazu in einem Kommentar:
Es ist beschämend, dass die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete EU nicht einmal gewillt ist, die Kosten für das grandiose italienische Rettungsprogramm Mare Nostrum zu übernehmen. (…) Europas Politiker waschen sich ihre Hände in Unschuld – in dem Wasser, in dem die Flüchtlinge ertrinken.
Laut der Strafanzeige der Anwälte betreibe die EU
eine Politik der erzwungenen Rückführung [der Flüchtlinge, Anm. d. Red.] in konzentrationslagerähnliche Haftanstalten [in Libyen, Anm. d. Red.], wo grausame Verbrechen begangen werden.
Die 245-seitige Anklageschrift fordert nun Strafmaßnahmen, da "das Leben von Migranten in Seenot geopfert [werden] sollte, nur mit dem einzigen Ziel, andere in ähnlicher Situation davon abzuhalten, sicheren Hafen in Europa zu suchen".
Der Anwalt und Investigativ-Journalist Juan Branco, der zuvor sowohl für den IStGH als auch das französische Außenministerium tätig war und als enger Berater von Julian Assange und WikiLeaks gilt, reichte die Anklage gemeinsam mit dem israelischen Rechtsanwalt Omer Shatz ein. Shatz ist darüber hinaus Dozent an der französischen Universität Sciences Po.
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Der Vorwurf der "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" stützt sich in Teilen auch auf interne Papiere von Frontex, der EU-Organisation, die ihrem Auftrag nach für den Schutz der EU-Außengrenzen zuständig ist. Die Anwälte argumentieren, dass ein Wechsel von der erfolgreichen italienischen Rettungspolitik von Mare Nostrum zu einer "höheren Zahl von Todesopfern" führen könnte.
Der Wechsel von Mare Nostrum hin zur Operation Triton (benannt nach dem griechischen Meeresgott gleichen Namens) stelle strafrechtlich und völkerrechtlich einen Fall der sogenannten "mens rea", also einen subjektiven Tatbestand dar.
In ihrem Dossier behaupten die Anwälte, dass die von ihnen zusammengetragenen Beweise die strafrechtliche Verantwortlichkeit im Rahmen der IStGH-Gerichtsbarkeit für "den Tod von jährlich Tausenden Menschen, die Ablehnung (erzwungene Rückführung) von Zehntausenden von Migranten, die versuchen, aus Libyen zu fliehen, und die anschließende Begehung von Mord, Deportation, Inhaftierung, Versklavung, Folter, Vergewaltigung, Verfolgung und anderen unmenschlichen Handlungen" begründen.
Demnach handele es sich bei der Triton-Mission "um den tödlichsten und organisiertesten Angriff gegen eine zivile Population, für den der IStGH in seiner gesamten Geschichte zuständig war".
Triton umfasste nach Angaben der Anwälte ein "Gebiet bis zu 30 Seemeilen vor der italienischen Küste von Lampedusa, so dass rund 40 Seemeilen des wichtigsten Notstandsgebietes vor der Küste Libyens nicht abgedeckt wird", heißt es in der Einreichung. Zudem würden auch weniger Schiffe eingesetzt.
In der Anklageschrift heißt es, dass EU-Beamte "nicht davor zurückschreckten, zuzugeben, dass Triton ein unzureichender Ersatz für Mare Nostrum war". In einem von den Anwälten zitierten internen Frontex-Bericht vom 28. August 2014 wurde demnach anerkannt, dass "der Rückzug der Marine aus dem Gebiet, wenn er nicht rechtzeitig geplant und angekündigt wird, wahrscheinlich zu einer höheren Zahl von Todesfällen führen würde".
Die von den 28 EU-Mitgliedsstaaten getragene Triton-Mission kostete die Europäische Union nur einen Bruchteil von Mare Nostrum. Da die Schiffe nicht mehr nahe der libyschen Küste patroullierten, nahm die Zahl der Toten zu. So starben im Jahr 2015 mehr als 4.000 Menschen bei dem Versuch, Europa zu erreichen. 2016 waren es 5.100 Tote.
Die Beamten der Europäischen Union und der Mitgliedsstaaten waren sich der tödlichen Folgen ihres Verhaltens bewusst und besaßen entsprechendes Vorwissen", heißt es demzufolge in dem Rechtsdokument.
Das IStGH befasst sich bereits mit Libyen, allerdings mit Schwerpunkt auf dem vermeintlichen "libyschen Bürgerkrieg", der im Jahr 2011 ausbrach und zum Sturz des libyschen Staatsoberhaupts Muammar al-Gaddafi führte. Die Chefanklägerin des IStGH, Fatou Bensouda, sprach jedoch auch von Untersuchungen zu "angeblichen Verbrechen gegen Migranten im Transit durch Libyen".
Die große Frage sei laut Branco nun, ob man sich traut, aufgrund des eingereichten Rechtsdokuments Ermittlungen einzuleiten. Dass es so weit kommt, bezweifeln offenbar selbst die Kläger.
Wir überlassen es der Chefanklägerin, (…) wenn sie sich traut, in die Machtstrukturen zu gehen und im Herzen von Brüssel, Paris, Berlin und Rom zu ermitteln", erklärte der Jurist.
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