von Paul Loewe
"Auf die Krim willst du? Na, prima!" Stanislaw, ein alter russischer Freund von mir, grinst mich an. "Dort fahre ich seit über zwanzig Jahren hin. Jeden Sommer. Aber pass auf: Die sind da Jahrzehnte zurück! Kein Wunder: Da wurde ja früher nie investiert – immer nur rausgeholt!" Wir genießen gerade eine abendliche Rundfahrt auf der Moskwa. Langsam tuckert das kleine Schiff an der Christ-Erlöser-Kathedrale vorüber.
"Aber es soll doch dort so wunderschön sein! Die italienische Landschaft: die Berge, das Meer, die Schlösser, Villen und Sanatorien, der Wein ... Sehnsuchtsort der Dichter. Das ist doch das sowjetische, äh: russische Arkadien!" Ich schaue etwas verdutzt. "Ist es auch. Aber schlechter Service. Keine Kundenfreundlichkeit; nicht so wie bei uns in Moskau! Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt nicht. Unter uns: Ist in Antalya besser! Und eine ganz andere Mentalität. Weniger pünktlich und zuverlässig, die Leute. Alles halt zurückgeblieben!"
Russlands "Neue Bundesländer"
Klingelt es bei Ihnen? Kommt Ihnen da etwas bekannt vor? – Bingo! Genau so sprachen die Westdeutschen nach dem Mauerfall über die Verhältnisse in der DDR! Dass der Beitritt der Krim zur Russischen Föderation vor fünf Jahren – im Westen nach wie vor unisono als völkerrechtswidrige Annexion bezeichnet – in Russland ausgerechnet "Wiedervereinigung" genannt wird, lenkt die Assoziationen in dieselbe Richtung. Sollte es etwa analoge Probleme in Russlands "Neuem Oblast" plus der Stadt mit dem Sonderstatus, Sevastopol, geben wie bei uns nach dem 3. Oktober 1990? Immerhin dürfte auch der "Aufbau Süd" einer Region von fast der Größe Belgiens den russischen Steuerzahler einiges kosten! Gibt es nun in Russland womöglich auch Polarisierungen zwischen "Nordis" und "Südis"? "Bessernordis" aus Moskau, die den zurückgebliebenen "Südis" in Simferopol, Feodossija und Kertsch geduldig erklären, wo es jetzt langgeht? Folgte der Anfangseuphorie etwa auch hier auf allen Seiten ein Katzenjammer, als es an die berühmten "Mühen der Ebene" ging?
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Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr "Musik" scheint mir in diesem Vergleich drinzustecken! Warum sich die heutige Krim nicht mal durch die Brille der deutschen Wiedervereinigung ansehen? Noch ein Grund mehr also, hinzufahren!
Genauer: hinzufliegen. Denn der Landweg durch die Ukraine wäre reichlich kompliziert ... (By the way: Schon wieder eine Analogie zu den deutschen Verhältnissen! Wer als DDR-Oppositioneller zu Zeiten der deutschen Teilung nach Westdeutschland freigekauft wurde und anschließend mal Westberlin besuchen wollte, weiß, wovon ich rede.) Vom Moskauer Flughafen Domodedowo ist man dagegen völlig problemlos in zweieinhalb Stunden in Simferopol, der Hauptstadt der Krim – handelt es sich doch aus russischer Perspektive um einen Inlandsflug. Die ukrainische Sicht ist allerdings etwas anders: Wer auf diese Weise Arkadien bereist, macht sich für Kiew des "illegalen Grenzübertritts" schuldig und kann Schwierigkeiten – vom Einreiseverbot bis zur Strafverfolgung – bekommen, wenn er das nächste Mal in die Ukraine einreisen will. Wer also später einmal Lemberg, Czernowitz, Kiew oder Odessa besuchen möchte, sollte etwas aufpassen!
Hamburger Novemberwetter in Arkadien
Das ultramoderne Flughafengebäude in Simferopol, eine Kooperation von russischen und südkoreanischen Architekten, wurde vor einem Jahr eröffnet. Man hatte mir gesagt, ich könne von dort mit dem Trolleybus direkt ins Stadtzentrum fahren. Ich verlasse die Eingangshalle – und: schrecklichstes Hamburger Novemberwetter schlägt mir entgegen! Sieben Grad kühl ist es hier Mitte April, der Himmel mit schwarzen Wolken verhangen, dichter Dauernieselregen, man kann kaum die Hand vor Augen sehen, so dunkel ist es. Das also ist das vielbesungene Arkadien, Sehnsuchtsort von Tauriern, Griechen, Skythen, Römern, Goten, Hunnen, Tataren, Genuesen und Venezianern, Osmanen, Russen und Nazideutschen! Verdrehte Welt: In Moskau war es zwar etwas kühler, aber es herrschte wolkenloser Himmel und Sonnenschein – und hier in Arkadien ...
Der Trolleybus: ein museumsreifes Gefährt, vermutlich aus den Sechzigern, die zerschlissenen Sitze mit den ausgeleierten Sprungfedern alle unbegreiflicherweise völlig tief gelagert, die Stoßdämpfer könnte man ruhig auch mal erneuern. Immerhin, für ganze 17 Rubel kommt man innerhalb einer Stunde bis ins Zentrum! Busfahrer und Passagiere, alle deutlich schlechter angezogen als die Menschen in Moskau, helfen dem etwas desorientierten Deutschen, der sich hier zunächst wie auf einem fremden Planeten fühlt, sehr freundlich weiter. Draußen, soweit ich bei diesem Wetter etwas erkennen kann, steppenartige Landschaft und fast überall Straßenarbeiten. In der Nähe des zentralen Lenin-Platzes muss ich aussteigen, und nach einigem Nachfragen finde ich den Weg zu meinem Hotel.
Dort angekommen gab es die erste Überraschung: Man kann auf der Krim offensichtlich doch mit Kreditkarte bezahlen! Und ich hatte in Erinnerung, dieses System würde aufgrund des westlichen Sanktionsregimes nicht funktionieren. Mein Zimmer: in der Tat Sowjetlook pur! Nur das Allernötigste, dunkles Mobiliar, abgewetzter Teppich, lange altmodische Vorhänge am riesigen Fenster. Und das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt zumindest hier tatsächlich nicht! Dafür ist es allerdings sauber.
"Du hättest das mal früher sehen sollen!"
Gegen 22:00 Uhr streune ich noch etwas durch das fast menschenleere Zentrum Simferopols. Und muss aufpassen, dass ich in der Dunkelheit nicht immer wieder durch die Straßenlöcher, die großen Abstände zwischen den Betonplatten auf den Bürgersteigen oder die hohen Trottoirkanten ins Stolpern komme. Der Kontrast zu Moskau ist deutlich: Im Zentrum der russischen Hauptstadt sind mittlerweile die meisten Straßen und Häuser renoviert, vieles jetzt auch recht fußgängerfreundlich gestaltet. Hier in der Hauptstadt der Krim sehen auch die Lebensmittelgeschäfte noch aus wie zu Sowjetzeiten. Irgendwie erinnert mich alles etwas an Chișinău in Moldawien oder Tiraspol in Transnistrien.
Am nächsten Morgen besucht mich Anna. Vor weniger als zwei Monaten hatte ich die junge in Simferopol geborene und seit fünf Jahren in Deutschland verheiratete Russin im Zug durch Süddeutschland kennengelernt. Etwa zwanzig Minuten lang unterhielten wir uns angeregt; sie erzählte mir, woher sie kommt, und ich meinte, auf die Krim würde ich auch gerne mal fahren, mich aber nicht so recht trauen ... Nun wird sie mir die ersten Tage den Einstieg hier erleichtern. Für morgen hat sie bereits eine Fahrt mit ihren Eltern ans Meer nach Jewpatorija geplant, wo man die Spuren der multiethnischen Geschichte der Krim auf engstem Raum besichtigen kann, und übermorgen steht ein Gespräch mit ihrem Bruder, der in der Stadtverwaltung arbeitet, auf dem Programm. Zwanzig Minuten Zugbekanntschaft – und nun ist sie mein Schutzengel mitten auf der annektierten, will sagen: wiedervereinigten Krim. So etwas bringt nur eine russische Frau fertig!
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"Die Häuser und Straßen hier sind nicht renoviert? Du hättest das mal früher sehen sollen!" Gemeint sind die Zeiten, als die Krim noch zur Ukraine gehörte. "Die Ukraine hat doch jahrzehntelang kein Geld hier investiert!" Ich möchte wissen, wie die Mitte der Achtzigerjahre im Zentrum der Krim geborene Russin das Ende der Sowjetunion, die Zeit der Ukraine und die Ereignisse seit dem Kiewer Maidan erlebte. "Dass es die Sowjetunion nicht mehr gab", erzählt Anna, "merkte ich, als plötzlich keine 'Multiki' (sowjetische Zeichentrickfilme, die sich allseitiger Beliebtheit erfreuten) im Fernsehen mehr liefen! Stattdessen Mattscheibe. In unserer Schulklasse waren wir fast nur Russen, bis auf ein paar Tataren. Auch unsere Lehrer waren Russen. Wir erfuhren aber so gut wie nichts über russische Geschichte oder gar über die Geschichte der Krim. Auch russische Literatur wurde nur rudimentär und später nur noch als Fremdliteratur gelehrt. So wollte es der Kiewer Lehrplan, der für die gesamte Ukraine galt. Wir Russen hier, und wir bilden hier auf der Krim mehr als zwei Drittel der Bevölkerung, fühlten uns kulturell fremdbestimmt!
Natürlich gab es auch Vorteile im Lehrprogramm, die unsere Altersgenossen in Russland wahrscheinlich nicht hatten. So bekamen wir in der Oberstufe (2001-2002) einen Englischlehrer direkt aus den USA. Was kann für Jugendliche besser sein als ein Native Speaker! Sehr bald aber legte er uns ganz seltsame Fragebögen vor, mit Fragen wie: 'Haben Sie Respekt vor Ihrem Präsidenten? Können Sie sich einen Krieg zwischen Russland, Weißrussland und der Ukraine vorstellen?' Es dauerte nicht lange, bis wir ihn 'Spy' nannten. Soweit ich mich erinnere, hat er uns außer den verdächtigen Umfragen und Aufsätzen keine weiteren Aufgaben gestellt."
Fortsetzung folgt
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