In einem Interview mit RT erläuterte der abchasische Außenminister Daur Kowe seine Sicht auf den Konflikt mit Georgien. Er sprach auch über die Rolle Russlands und der westlichen Staaten bei der Lösung der "abchasischen Frage" und zeigte die Wege aus der internationalen Isolation auf.
Die Republik Abchasien, etwa so groß wie Zypern, liegt an der östlichen Schwarzmeerküste, im Norden grenzt sie an die russische Region Sotschi und zählt derzeit etwa 240.000 Einwohner.
RT: Der deutsche Leser weiß so gut wie nichts über Abchasien. Die Medien erinnern sich nur dann an Ihren nicht anerkannten Staat, wenn sie die ethnischen Konflikte in den Nachfolgerstaaten der ehemaligen Sowjetunion aufzählen müssen. Dabei wird unbedingt darauf hingewiesen, dass Russland in diesem Konflikt gegen die territoriale Integrität Georgiens verstoße. Erzählen Sie bitte aus Ihrer Perspektive: Woher kommt die Republik Abchasien?
D. Kowe: Es gibt in der Tat äußerst wenig objektive und gehaltvolle Informationen über die Republik Abchasien in den europäischen Medien. Grund dafür ist nicht nur, dass ein massives Vordringen in die westlichen Medien eines erheblichen Finanzaufwandes bedarf, sondern auch, dass unsere Versuche, den Lesern unseren Standpunkt näherzubringen, oft bewusst blockiert werden, weil die absolute Mehrheit der westlichen Medien sich bezüglich der georgisch-abchasischen Beziehungen blind an die offizielle Position Georgiens hält. Dennoch bemühen wir uns, dank verschiedener Möglichkeiten diese negative Tendenz zu überwinden.
Was die These über die territoriale Integrität Georgiens betrifft, so ist es notwendig, darauf hinzuweisen, dass sie seit Langem nicht der gegenwärtigen politischen Realität entspricht, jedoch von georgischen Politikern nach wie vor aus Gewohnheit in propagandistischer Absicht geäußert wird. Die Republik Abchasien existiert seit 1993, also seit dem Ende des Krieges zwischen Georgien und Abchasien, als unabhängiger Staat. 1999 hat das abchasische Parlament infolge eines landesweiten Referendums den Akt über die Unabhängigkeit des Staates verabschiedet. 2008 hat die Russische Föderation, und danach auch eine Reihe anderer UNO-Mitgliedsländer, die Republik Abchasien als unabhängigen Staat anerkannt.
Es muss auch bemerkt werden, dass Russland vor Anerkennung der Unabhängigkeit Abchasiens neben der UNO und der OSZE als Vermittler bei der Regelung des georgisch-abchasischen Konfliktes fungiert hat. Doch Georgien schleust die absurde These in die westliche Infosphäre ein, dass Russland ein Besatzer und Aggressor sei, der dessen territoriale Integrität in Frage stelle. Indem Tiflis sich bemüht, den georgisch-abchasischen Konflikt als georgisch-russischen darzustellen, führt es vor Augen, dass es Abchasien als Konfliktpartei und politisches Subjekt bei den Verhandlungen nicht anerkennen will.
RT: Wo liegen Ihrer Meinung nach die Wurzeln des georgisch-abchasischen Konflikts, und warum scheint er so unlösbar zu sein?
D. Kowe: Der georgisch-abchasische Konflikt ist nicht heute und nicht gestern entstanden, er hat bestimmte historische Wurzeln. Die historische Erfahrung der Koexistenz mit Georgien so gut wie im ganzen Verlauf des 20. Jahrhunderts wird in der abchasischen Gesellschaft äußerst negativ bewertet. Gleichzeitig möchte ich mich nicht zu sehr in die Geschichte vertiefen, in der stets viele negative Episoden zu finden sind. Man darf nicht immer in die Vergangenheit schauen, man muss auch an den morgigen Tag denken. Wir sind überzeugt, dass die Beziehungen der beiden Nachbarvölker auf Gleichberechtigung beruhen und gegenseitig vorhersehbar sein sollen. Georgien muss in Abchasien einen gleichberechtigten Partner, ein selbständiges politisches Subjekt und nicht jemandes Marionette oder "besetztes Terrain" sehen. Nur dieser Weg kann ein Schritt in die richtige Richtung sein, und nur in diesem Fall kann der Konflikt seine Unlösbarkeit verlieren. Doch das Problem liegt darin, dass wir seit Langem keine faktische Revision des politischen Kurses von Tiflis gegenüber Abchasien sehen. Im Gegenteil, die von uns beobachteten Tendenzen rufen ernsthafte Besorgnis hervor. Es geht um die Verstärkung der Politik der internationalen Isolation Abchasiens und den Ausbau der Zusammenarbeit Georgiens mit der NATO. Die politische Rhetorik der georgischen Regierung und deren westlicher Partner, die für Abchasien beleidigend ist, hört nicht auf. So ein Kurs der georgischen Regierung kann natürlich gar keine Grundlage für eine Normalisierung der Beziehungen bieten.
RT: Ist ein wirtschaftlicher Wiederaufbau im Gange? Abchasien war früher eine Kurgegend für die ganze Sowjetunion. Und jetzt sehen wir an der Schwarzmeerküste immer noch Ruinen. Diese Stagnation ist ein wirklich schmerzhafter Anblick.
D. Kowe: In den 1990ern befand sich Abchasien in einer äußerst schweren Situation wegen der Zerrüttung nach dem Krieg und der Wirtschaftssanktionen, die die GUS-Staaten auf Drängen Georgiens hin verhängt hatten. Der Krieg hatte der abchasischen Wirtschaft schweren Schaden zugefügt. Für einen vollständigen Wiederaufbau der Wirtschaft sind beträchtliche finanzielle Mittel notwendig. Nachdem Russland die Unabhängigkeit Abchasiens anerkannt hatte, begann ein Zufluss von Finanzhilfen aus Moskau in die Republik, die größtenteils für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes sowie den Wiederaufbau von sozialen Infrastrukturobjekten verwendet werden. Moskau und Sochumi entwickeln und verwirklichen das Investitionsprogramm zur Beihilfe für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung Abchasiens und setzen gemeinsame Investitionsprojekte um.
Doch die abchasische Wirtschaft beruht nicht nur auf Hilfe von außen, sondern verfügt auch über eigene Ressourcen für das Wirtschaftswachstum. Die grundlegenden Wirtschaftsbereiche sind Erholung und Tourismus sowie Landwirtschaft. In diesen Bereichen gibt es die besten Perspektiven. Abchasien war noch vor der Sowjetzeit für seine Ferienressorts berühmt. Auch die Verkehrs- und Logistik-Infrastruktur des Landes hat ein beträchtliches, doch bislang nicht umgesetztes Potenzial.
RT: Und wie schätzen Sie die Rolle Russlands in diesem Konflikt ein? Denn Hilfe für so einen kleinen, nicht anerkannten Staat ist nur durch tiefgehende Integration im wirtschaftlichen, humanitären und anderen Bereichen möglich. Die Bundesregierung betrachtet das als schleichende Annexion. Also Hilfe, doch trotzdem schlecht. Wieder eine ausweglose Situation?
D. Kowe: Die Russische Föderation hat eine Schlüsselrolle in der Regelung des georgisch-abchasischen Konflikts gespielt. Es waren die russischen Friedenstruppen, die die Konfliktparteien nach Ende des Krieges trennen halfen und Bedingungen für die Bewahrung von Frieden und Sicherheit in Abchasien schufen. Im Verlauf der Nachkriegsverhandlungen zwischen Abchasien und Georgien bemühten sich russische Diplomaten um eine politische Regelung. Doch obwohl Tiflis sich in seiner Rhetorik dem friedlichen Dialog verschrieb, nahm es faktisch Kurs auf die Sabotage der Verhandlungen, wirtschaftlichen und politischen Druck sowie bewaffnete Provokationen in Abchasien. Nach Georgiens Aggression in Südossetien im August 2008 erkannte Russland die Unabhängigkeit Abchasiens an. Seitdem tragen die Beziehungen zwischen Abchasien und Russland den Charakter offizieller zwischenstaatlicher Beziehungen.
Moskau leistet Abchasien erhebliche finanzielle Hilfe, und diese Hilfe dient nicht der Einschränkung der Souveränität, sondern der nachhaltigen sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Die Unterzeichnung des Vertrags über Bündnis und strategische Partnerschaft 2014 hat Bedingungen für eine qualitativ neue Ebene in der Interaktion der beiden Staaten geschaffen.
Wenn Berlin die Beziehungen Russlands zu Abchasien als "schleichende Annexion" betrachtet, so zeugt das nur davon, dass sich die Bundesregierung, ohne sich in das Wesen dieser Erscheinung vertiefen zu wollen, georgische Propaganda-Klischees verbreitet, die keinen Bezug zur Realität haben.
RT: Die Geschichte Ihres Staatswesens zählt bereits mehrere Jahrzehnte. Doch nur wenige Staaten haben bislang Ihren Staat anerkannt. Warum wenden sich die Spieler auf der internationalen Arena ab? Die Situation scheint der des Kosovo sehr ähnlich zu sein. Das Kosovo wurde gleich am Tag nach seiner Unabhängigkeitserklärung von 40 Staaten anerkannt.
D. Kowe: Die Frage der Erweiterung der internationalen Anerkennung liegt im Fokus des abchasischen Außenministeriums. Das ist eine der Prioritäten der Außenpolitik unseres Landes. Das Erreichen konkreter Ergebnisse bei der Anerkennung unserer Unabhängigkeit erfordert unter anderem feine und aufwendige Arbeit, die aus bestimmten Gründen nicht in den Blick der Öffentlichkeit und auch nicht in die Newsticker der Nachrichtenagenturen gerät. Das jüngste Beispiel ist die Anerkennung der Unabhängigkeit der Republik Abchasien durch Syrien. Dieses Ereignis ist für uns keine Überraschung gewesen, im Gegenteil, es ist das Ergebnis langer und konsequenter Arbeit. Doch bei der Erweiterung der Liste der Länder, die uns anerkennen, stoßen wir auf erbitterten Widerstand Georgiens und seiner westlicher Partner. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass in Georgien ein besonderes Gesetz gilt, das Abchasien zum "besetzten Territorium" erklärt, und demnach gilt jegliche Zusammenarbeit mit uns in Georgien als strafbar.
Was das Kosovo angeht, so ist zu bemerken, dass es trotz einiger allgemein bekannter Parallelen nicht ganz gerechtfertigt ist, die Beispiele Kosovo und Abchasien nebeneinanderzustellen. Der geopolitische Kontext in Abchasien ist ein anderer. Außerdem müssen auch die Unterschiede im historischen, politisch-rechtlichen und moralischen Bereich berücksichtigt werden, die offensichtlich mehr Argumente für die Anerkennung Abchasiens als unabhängigen Staat liefern. Doch zur gleichen Zeit führt die Situation mit der Anerkennung des Kosovo anschaulich die berühmt-berüchtigte Politik der Doppelmoral der USA und der führenden europäischen Länder vor Augen, die es für angemessen halten, die Unabhängigkeit der einen Staaten anzuerkennen und anderen die Anerkennung vorzuenthalten. Mehr noch, die westlichen Partner Georgiens unterstützen aktiv dessen Politik der Isolation Abchasiens in der internationalen Arena, indem sie die Kontakte unseres Landes mit der Außenwelt auf alle möglichen Weisen einschränken.
RT: In jenem Konflikt unterstützt Russland übrigens Serbien, also auf Ihre Situation übertragen Georgien. Folglich müssen sich alle nach der politischen Zweckmäßigkeit richten.
D. Kowe: Jeder Staat verfolgt zweifellos eine Außenpolitik, die seinen nationalen Interessen entspricht. Die Anerkennung von Staaten ist in großem Maße ein politischer Akt, der aus bestimmten Interessen heraus entschieden wird. Doch gleichzeitig schließt das die Notwendigkeit gewisser universeller Kriterien nicht aus, die zumindest als Anhaltspunkte dienen und keine völkerrechtswidrigen Handlungsweisen erlauben würden. Doch wenn wir wieder das Kosovo nennen, so können wir uns erinnern, wie die westlichen Staatschefs immer wieder betonten, dass dessen Anerkennung ein Sonderfall sei, der aus irgendeinem Grunde nicht auf andere Regionen übertragen werden könne. Stichhaltige Argumente für diesen Standpunkt wurden nicht genannt. Soll das bedeuten, dass die USA und ihre Verbündeten einen Grund hatten, die Unabhängigkeit dieser serbischen Region anzuerkennen, und Russland für die Anerkennung Abchasiens nicht?
RT: Welche Parallelen sehen Sie zu anderen Konflikten im postsowjetischen Raum? Die Konflikte in Transnistrien oder in der Region Donbass in der Ostukraine sind ihrem Wesen nach keine ethnischen Konflikte. Selbst in der offiziellen Staatsbezeichnung von Transnistrien, "Pridnestrowische Moldauische Republik", ist das Wort "moldauisch" enthalten.
D. Kowe: Die Konflikte im postsowjetischen Raum weisen zwar gewisse gemeinsame Merkmale auf, unterscheiden sich jedoch nach einigen wichtigen Eigenschaften, und sie sollten nicht pauschal als gleichartig betrachtet werden. Wie Sie richtig gesagt haben, können einige von ihnen nicht als ethnische Konflikte eingestuft werden, doch was den georgisch-abchasischen Konflikt anbetrifft, so ist es offensichtlich, dass der ethnische Aspekt dabei zweifellos eine große Rolle spielt. Die Abchasen haben eine eigene ethnische und nationale Identität. Im Verlauf des gesamten 20. Jahrhunderts strebten die Abchasen einen Status an, der sie als ungeteilte ethnische Gemeinschaft bewahren würde. Die schwere historische Erfahrung hat unser Volk überzeugt, dass es nur dann erhalten bleiben könne, wenn es über Souveränität in seiner historischen Heimat verfügte, denn eine andere Heimat haben die Abchasen im Unterschied zu einer Reihe anderer Völker nicht. Die Idee der Unabhängigkeit dominiert in der abchasischen Gesellschaft. Dieser Umstand unterscheidet Abchasien von vielen anderen und hilft in vielerlei Hinsicht, unsere Bestrebungen zu verstehen.
RT: Und wird ein freiwilliger Beitritt zur Russischen Föderation, beispielsweise durch ein landesweites Referendum, nicht erwogen?
D. Kowe: In Übereinstimmung mit der geltenden Verfassung ist die Republik Abchasien ein souveräner und unabhängiger Staat. Dieser Kurs, der die Interessen des abchasischen Volkes widerspiegelt, bleibt unverändert.
Vielen Dank für das Gespäch!
Das Interview führte RT-Redakteur Wladislaw Sankin.