EU in der Krise: Linke ringen um richtige Antworten

Die Frage, wie die Europäische Union zu bewerten sei, ist in linken Kreisen ein umstrittenes Thema. Einige meinen, auch ein soziales und friedliches Europa sei mit der EU möglich. In Berlin fand eine Veranstaltung statt, die mit diesem Mythos aufräumte.

von Hasan Posdnjakow

Am 11. Mai lud das Marx-Engels-Zentrum – in Kooperation mit der Marx-Engels-Stiftung in Wuppertal – zu einem halbtägigen Seminar in Berlin ein, das sich um das Thema "Die EU in der Krise" drehte. Erster Referent war der Bundestagsabgeordnete der Linkspartei Dr. Alexander Neu.

In seinem Referat charakterisierte der profilierte Linken-Politiker die EU als eine Art vorübergehendes ultraimperialistisches Bündnis. Damit bezog er sich auf eine theoretische Debatte unter Marxisten, die bereits Anfang des 20. Jahrhunderts ausgetragen wurde. Der große deutsche sozialdemokratische Theoretiker Karl Kautsky hatte nämlich die These aufgestellt, dass aufgrund der zunehmenden wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den kapitalistischen Staaten und der Monopolisierungstendenz des Kapitalismus zukünftig Kriege zwischen den Großmächten ausgeschlossen seien. Statt Konkurrenz würde es eine Art weltumspannendes kapitalistisches Kartell geben. Lenin und andere linke Marxisten widersprachen dieser These vehement. Ihnen zufolge produziere der Kapitalismus ständig Widersprüche und Konkurrenz, auch in seiner imperialistischen Phase: Ein dauerhafter Frieden sei daher unter kapitalistischen Bedingungen unmöglich.

Neu erklärte, dass die EU heute ein Zweck-Bündnis der kapitalistischen Staaten Europas sei, welches somit vorübergehend kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den beteiligten Großmächten gebändigt habe. Er äußerte sich jedoch skeptisch, ob solch ein Bündnis dauerhaft Bestand haben könnte. Denn ein derartiges Bündnis sei darauf angewiesen, dass der Hegemon (in aktuellen Fall Deutschland) zwischen den Bündnismitgliedern möglichst dauerhaft Konsens schaffen kann. Aktuell trete aber immer mehr Dissens zutage.

Die westdeutsche Außenpolitik habe nach 1945 den Weg eingeschlagen, sich den USA unterzuordnen, nachdem der Versuch der aufstrebenden Großmacht, sich einen "Platz an der Sonne" militärisch gegen die etablierten Mächte zu erkämpfen, zwei Mal gescheitert war. Deutschland nutze derzeit die Europäische Union, um endlich in der Weltpolitik wieder mitzuspielen. Neu stellte jedoch nachdrücklich fest, dass die Widersprüche zwischen den großen westlichen Staaten derzeit sichtbar zunehmen.  

Der Linken-Bundestagsabgeordnete erläuterte weiter, wie sich die EU daneben im Verlauf der Zeit zunehmend militarisierte und schrittweise hierfür eigene Strukturen geschaffen wurden, etwa die sogenannte Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO), ein Projekt, welches vor allem auch auf deutsche Initiativen zurückgeht. Er kritisierte auch jene Politiker seiner eigenen Partei, die die EU nach wie vor als Friedensprojekt bezeichnen und damit von der wachsenden Gefahr forcierter Rüstung und eigenständiger militärischer Abenteuer seitens der EU ablenken.

Als nächster Redner sprach der Finanzjournalist Lucas Zeise. Er ging darauf ein, dass das europäische Projekt nicht – wie heute ideologisierend immer verbrämt wird – entstand, um in Europa den Frieden zu sichern, sondern von Beginn an als Bündnis gegen den Sozialismus in Europa. Die EU sei nur insofern als Friedensmacht zu bezeichnen, als eine hegemoniale Macht (Deutschland) imstande ist, sich gegenüber den Partikularinteressen der anderen, meist deutlich kleinerer Staaten durchzusetzen. Er schilderte im Verlauf seines Referats die weitere, schrittweise Entwicklung zu einer engeren Verflechtung der Staaten der späteren EU, wobei stets die wirtschaftlichen Interessen, also die Abschaffung der Binnenzölle und anderer Handelsbarrieren, im Mittelpunkt standen.

Die 1950er und 1970er Jahre seien für die Verwertungsinteressen der Kapitaleigner ein goldenes Zeitalter gewesen. In dieser Zeit sei es möglich gewesen, ein keynesianisches Programm durchzuführen, von dem vor allem die Kapitalisten profitiert hätten, das aber dabei sogar auch einen relativen Wohlstand für die Werktätigen der entwickelten westlichen Länder ermöglichte.

Die Idee, eine gemeinsame Währung im neuen westeuropäischen Wirtschaftsraum zu schaffen, sei vor allem von jenen Unternehmerkreisen ausgegangen, die grenzüberschreitenden Handel betrieben. Die BRD habe Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre eine schlechte Wirtschaftsphase erlebt, in der es zu einem großen Kapitalexport aus Deutschland aufgrund der im Ausland höheren Renditemöglichkeiten gekommen sei. Das sei jedoch nicht, wie von unternehmernahen Experten behauptet, auf die angeblich hohen Lohnkosten zurückzuführen gewesen, sondern auf die Zinsen in anderen Staaten. Dennoch habe die Bundesregierung unter dem Altkanzler Gerhard Schröder ein massives Lohnsenkungsprogramm in Form von Hartz-IV und der Agenda 2010 durchgeführt, wodurch der Leistungsbilanzüberschuss der BRD massiv erhöht wurde. Zeise argumentierte zum Schluss seines Referats, dass sich der Euro als großer einheitlicher Währungsraum in seiner jetzigen Form nicht dauerhaft werde halten können, da die Eurozone – strukturell bedingt – Verlierer- und Gewinnerstaaten schaffe, ohne für einen Ausgleich zwischen ihnen zu sorgen, wie das etwa in den einzelnen Nationalstaaten mittels Transferleistungen und anderen staatlichen Maßnahmen geschieht. Daher hätten die Verliererstaaten langfristig kein Interesse, sich an diesem Projekt weiter zu beteiligen.

Andreas Wehr, Mitbegründer und Leiter des Berliner Marx-Engels-Zentrums, erläuterte in seinem Beitrag die These, dass die Brexit-Entscheidung des britischen Volkes gekippt werden soll. Die Brexitgegner hätten auf die Strategie gesetzt, mit einer Blockade- und Verzögerungstaktik die Menschen in Großbritannien hinreichend zur Verzweiflung zu bringen. Wehr beklagte, dass sich sogar "linke" Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und aus Parteien enttäuscht zeigten über das Ausgang des Referendums und die Wähler, die für den Brexit gestimmt hatten, für unmündig erklärten, statt anzuerkennen, dass der Ausgang des Referendums ein nahezu einmaliger Bruch, "eine Absage an nahezu die gesamte herrschende Klasse, national wie international", war. Konsequente Linke in Großbritannien dagegen hätten sich für einen "linken Brexit" ausgesprochen.

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