Die Studentenvereinigung Critique de la Raison Européenne lud Ende März zu einer Diskussionsrunde ein. Der Sozialwissenschaftler Emmanuel Todd und und der Historiker und Philosoph Marcel Gauchet diskutierten über den Zustand der französischen Gesellschaft, die Gelbwesten, die Präsidentschaft Emmanuel Macrons und die Europäische Union.
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Nach Einschätzung Emmanuel Todds, schon lange als scharfer Kritiker Macrons bekannt, ist der Präsident durch die Gelbwesten-Proteste gebrochen:
Macron war mit einer liberalen, europäischen, extrem konventionellen Regierung gestartet, die übrigens einen Teil der oberen Klasse in einen halluzinatorischen Zustand zu versetzen schien. Aber das wurde durch die Gelbwesten gebrochen. Zum jetzigen Zeitpunkt besteht das Programm des Macronismus darin, die gelben Westen zu stoppen und die Ordnung aufrechtzuerhalten. Der Macronismus hat nur noch eine autoritäre Funktion.
Ähnlich kritisch beurteilte Gauchet, Chefredakteur der Zeitschrift Le Débat, Macrons Regierung:
Das Ausmaß der Personalisierung der Macht verwässert diese schließlich in den Köpfen der Bürger … Für die Masse der Bevölkerung installiert dieser Diskurs eine Art Leere an die Stelle der Macht: Wir wissen nicht, was er denkt, wir wissen nicht, was er will, wir wissen nicht, wohin er geht.
Die Proteste der Gelbwesten stellen in den Augen beider Experten einen Wendepunkt dar. Todd meinte, die durch die Proteste ausgelöste Krise habe die autoritäre Wendung des Macronismus offenbart. In Hinblick auf die Präsidentschaftswahl 2022 sieht er die tief verwurzelten politischen Reflexe in Frage gestellt. Komme es erneut zu einer Stichwahl zwischen Macron und Marine Le Pen, könne man schlecht vor dieser als einer künftigen Bedrohung der Republik warnen, wenn ihr Gegenüber bereits bei der Zerstörung der Republik bewährt habe. Todd weiter:
Ich werde ihnen verraten, warum Macron kein Faschist ist. Macron ist kein Faschist, weil Mussolini ein Wirtschaftsprogramm hatte.
Die Gelbwesten bewerten beide Diskutanten prinzipiell positiv. Gauchet erklärt, durch deren plötzliche Mobilisierung vollkommen überrascht worden zu sein, obwohl die Existenz der tiefen Brüche im peripheren Frankreich lange bekannt gewesen sei. Die Gelbwesten markierten den Zusammenbruch einer von der Arbeiterbewegung geprägten politischen Kultur, dafür sei die Kultur der Sansculotten der französischen Revolution wiedererstanden, die des Volkes, das für seine Rechte kämpft.
Todd und Gauchet sehen in den Gelbwesten nicht das Ende, sondern eine Neuerfindung des Klassenkampfes. Todd sieht den "macronistischen Traum", dass sich die Franzosen ohne Gegenwehr zerstören ließen, zerplatzt. Mit den französischen Eliten gehen beide Wissenschaftler gehen hart ins Gericht. Sie habe das Land gespalten. Todd sieht das Land auf dem Weg in den Bürgerkrieg, falls es nicht gelingt, einen Verhandlungsmechanismus zu installieren.
Die Frage nach den Motiven der Elite für ihre Unterstützung der EU, Deutschlands und der liberalen Globalisierung lässt Todd ratlos zurück:
Was bringt eine herrschende Klasse dazu, Ihr eigenes Land zu zerstören? Das ist eine echte Frage. Ich verstehe das nicht.
Todd und Gauchet kritisieren in scharfen Worten das französische Bildungssystem. Die höheren Schulen führten zu Konformismus innerhalb der Elite. Todd spricht in diesem Zusammenhang von einer "Kretinisierung der Gebildeten", die zu einem "Tod des Geistes" führe.
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