von Wladislaw Sankin
Dmitri Kulikow ist eines der bekanntesten Gesichter im russischen Polit-Fernsehen, und er ist Mitglied des Sinowjew-Clubs – eines Intellektuellenverbands, benannt nach dem russisch-sowjetischen Logiker und Soziologen Alexander Sinowjew. Als Moderator mehrerer Politsendungen zu Fragen der Außenpolitik in Radio und Fernsehen sucht er in politischen Ereignissen nach "Formeln des Sinns". Ihm geht es um politisches Bewusstsein, um ein Verständnis für Prozesse hinter den Kulissen des internationalen politischen Geschehens.
Geboren und aufgewachsen ist Kulikow in der ostukrainischen Region Donbass, die seit fünf Jahren Schauplatz des Krieges zwischen der Kiewer Regierung und lokalen Aufständischen ist. Jahrelang war er u.a. als politischer Berater in der Ukraine tätig. Auch jetzt befindet er sich im ständigen Austausch mit zahlreichen Experten und Politikern aus der Ukraine und lädt sie in seine Sendungen ein. RT sprach mit ihm über die jüngsten Ereignisse in der internationalen Politik rund um die Ukraine und Russland.
Kein Verständnis für Merkel
So löste die Einladung des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko nach Berlin bei dem Experten Unverständnis aus. Nach derart "miserablen Wahlergebnissen und dem enormen Rückstand auf einen Polit-Neuling" entspreche die Einladung ohne jeglichen diplomatischen Anlass keinerlei politischer Logik. Außerdem seien die massenhaften Wahlmanipulationen und -fälschungen vonseiten des noch amtierenden Präsidenten sicherlich auch in Deutschland kein Geheimnis.
Mehr zum Thema - Dmitri Kulikow über Putinversteher, die Sowjetunion und Grenzen westlicher Demokratien
Der harsche Ton, mit dem die Parteispitze der Union den Favoriten im Präsidentschaftsrennen Wladimir Selenskij nach der vorläufigen Bekanntgabe der Wahlergebnisse bezüglich seines Team und Programms maßregelte, kenne man auch vom US-Botschafter – allerdings gegenüber Deutschland. Mit Nachdruck fordere dieser, dass Deutschland die Pipeline Nord Stream 2 wider deutsche Interessen nicht bauen sollte.
Es widerspiegelt das im Grunde koloniale System der geopolitischen Kette der Vasallen und Oberherren, die es in der Welt gibt. Die USA erteilen Deutschland ganz direkt Kommandos. Genauso verhalten sich aber auch die Deutschen gegenüber der Ukraine – angeblich weiß man da besser, was für das Land richtig sein soll", so der Politologe.
Das sei Sinn und Zweck des derzeitigen geopolitischen Systems, und das darf in Europa nicht laut gesagt werden. Jede Gesundung beginne aber damit, dass Politiker anfangen, die Dinge beim Namen zu nennen: "Ja, so läuft das auf der Welt." Nach dieser Feststellung sollte man entweder aufhören, den eigenen Staat für ein souveränes Subjekt auszugeben, oder die Abhängigkeit öffentlich eingestehen und entsprechende Verträge über die Oberherrschaft der USA unterschreiben, damit diese allen klar sei. Das betreffe aber nicht nur Deutschland, so Kulikow.
Darüber darf man aber nicht sprechen. Auch in der Ukraine darf man nicht darüber sprechen, dass dies ein gespaltenes Land ist – das Wahlverhalten in den Regionen hat es wieder gezeigt. Sollten aber die Menschen im System der allgemeinen Demokratie mit dem Tatsachen konfrontiert werden, werden sie nicht mehr lenkbar. Stellen Sie sich vor, Sie handeln im vollen Bewusstsein der Realität. Was kann man mit Ihnen machen?", fragte der russische Fernsehmoderator.
Laut Politologen ist die Unterstützung Poroschenkos durch Merkel auch deshalb nicht nachvollziehbar, weil Deutschland an einer sicheren Energieversorgung Deutschlands und Europas und damit nicht an einem Konflikt in der Ukraine interessiert sei. Da Poroschenko aber in Kiew die Partei des Krieges vertrete und die Ideologie des militanten Nationalismus fördere, sei die Gefahr einer Eskalation im Osten des Landes gerade unter seiner Präsidentschaft besonders groß. Bislang erhält Europa den Großteil des russischen Gases durch die Ukraine – im Jahr 2018 waren es 80 Milliarden Kubikmeter. "Stellen Sie sich vor, dass der Krieg diesen Transit stoppt." Dann seien die USA mit ihrem teuren Fracking-Gas schnell zur Stelle, was auch das Ziel der US-Politik sei.
Auf die Perspektive der Ukraine nach den Präsidentschaftswahlen angesprochen, sagte der Experte, dass er vom mutmaßlichen neuen Präsidenten, dem Komiker Wladimir Selenskij, keine Änderungen des bisherigen russophoben Kurses des Landes erwarte. Die mächtigen Kreise im Westen sähen in der Ukraine nach wie vor einen Hebel und ein Druckmittel gegen Russland, im schlimmsten Fall eine Plattform für die Stationierung von Waffen, die Russland ins Visier nehmen. Die ukrainischen Oligarchen, die im Land die Fäden ziehen, seien extrem abhängig vom US-Finanzsystem, und da gebe es weiterhin keinen Spielraum. Die Ukraine verharre damit im inzwischen archaischen Zustand, der typisch für alle postsowjetischen Staaten in den 1990er-Jahren war, auch für Russland. Russland sei dieser Entwicklung, die zum Zerfall und dem Verlust der Unabhängigkeit führt, aber knapp entkommen.
Entmenschlichung als Vorstufe des Krieges?
Die Entscheidung für den Westen bei der "Wahl der Zivilisationen", die ukrainische Eliten mithilfe westlicher Berater noch in den 1990er-Jahren getroffen hatten, hält Kulikow für einen Fehler und eine grobe Umkehrung der Postulate, die der Unabhängigkeitserklärung des Landes im Jahr 1991 zugrunde liegen. Darin sei der neutrale Status der Ukraine festgeschrieben. Nun habe Poroschenko die EU- und NATO-Mitgliedschaft in die Verfassung aufgenommen.
Wie sehr die Ukraine inzwischen im Westen "angekommen" sei, könne man in den Entmenschlichungsstrategien gegenüber Befürwortern einer Freundschaft mit Russland sehen. Der ideologisch motivierte Zynismus bei der Rechtfertigung der Vernichtung von "Kartoffelkäfern" und "Wattjacken" in Odessa und im Donbass sei ein Beispiel dafür. Das Bild von Russland als Hort des Bösen sei aber ein altbewährtes Propaganda-Instrument des Westens.
Die Russen als politische Vielvölkernation, die russische Zivilisation allgemein, werden in den Medien als eine Art Abweichung von einem richtigen Weg dargestellt, als etwas grundlegend Falsches. Deswegen kann man einfach so behaupten, die Russen seien jetzt in Estland einmarschiert, wie zuletzt im ZDF. Warum? Aus welchem Grund? Weil sie von sich aus einfach aggressiv seien", sagt der dem Westen gegenüber kritische Kulikow.
Mehr zum Thema - Wenn ein Kalter Krieger heißläuft – Claus Kleber redet von Krieg mit Russland
Mehr zum Thema - Mit dem Schweigen zur Assange-Verhaftung biedert sich das deutsche Establishment den USA an
Die Teilung der Menschen in wertvolle "Zivilisierte" und weniger wertvolle "Barbaren" sei ein seit dem Altertum genuines Wesensdenkmal der westlichen Zivilisation. Selbst im sichtbarsten Bereich – in der Architektur der Regierungsbauten – besinne sich der Anführer der westlichen Welt, die USA, auf Vorbilder aus dem Römischen Reich. In fast jeder seiner Reden betont Poroschenko, die Ukraine habe nun ihren würdigen Platz unter den "zivilisierten" Nationen eingenommen und das "dunkle" russische Imperium für immer hinter sich gelassen.
Diese Teilung habe genauso wie das immer wiederkehrende Muster einer Hexenjagd eine starke historische Wirkung. "Zivilisiert" seien nun diejenigen Völker, die in das Machtsystem der Abhängigkeiten aufgenommen seien. Da Russland eine unabhängige Politik anstrebe, gehöre es bestenfalls zu "schlechten" Europäern. Im Propaganda-Eifer vieler EU-Politiker wie etwa des EU-Parlamentspräsidenten Donald Tusk gehöre die Ukraine auch mit ihrem archaischen Ultranationalismus zu den "guten" Europäern, weil das Land nun direkt von der EU und dem Westen abhängig ist.
Dmitri Kulikow pflegt in seinen Analysen eine betont nüchterne, harte Rhetorik. "Ich sage Ihnen etwas Hartes. Bei der Vielzahl der Krisenherde auf der Welt wäre normalerweise schon längst ein Weltkrieg ausgebrochen. Nur die Existenz der Atomwaffen hat dies bislang verhindert. Die Menschheit hat Systemkrisen schon immer durch Kriege gelöst", sagt Kulikow.
Was hilft? Sich dieser Tatsachen immer bewusst zu sein, so der russische Politologe. Eigene, auch schmerzhafte Erfahrung helfe gegen gefährliche Naivität. Die Lösung der Ukraine-Krise sei deshalb möglich, aber erst dann, wenn eine bis zwei Generationen der Ukrainer verstehen, zu welchen Konsequenzen die Wahl ihrer Eliten für die Bevölkerung und die Sicherheit des Landes geführt hat.
Mehr zum Thema - "Putins Puppen" - An wessen Fäden hängt der Spiegel?